Hier spricht der Aushilfshausmeister! » Nichtmenschliche Wesen und Einflüsse

2022-12-08 12:19:48 By : Ms. Bella Zhang

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Marx zitiert im Kapital den Ökonomen Richard Jones, der sich über den Einsatz von Arbeitskräften beim Bau der Pyramiden ausließ: „In der Bewegung des kolossalen Statuen und der enormen Massen, deren Transport Staunen erregt, wurde fast nur menschliche Arbeit verschwenderisch angewandt. Die Zahl der Arbeiter und die Koncentration ihrer Mühen genügte. So sehn wir mächtige Korallenriffe aus den Tiefen des Ozeans zu Inseln anschwellen und festes Land bilden, obgleich jeder individuelle Ablagerer winzig, schwach und verächtlich ist.“ Gemeint sind die kleinen Korallentiere, die über Millionen Jahre Riffe errichteten, gegen die die Pyramiden Hundehütten sind. Das australische „Great Barrier Reef“ hat z.B. eine Ausdehnung von 348.700 Quadratkilometern.

Das Marx -Zitat entnahm ich dem Buch „Korallen“ (2019) der Kulturwissenschaftlerin Jutta Person, in dem sie die Geschichte der Wahrheit über Korallen nachzeichnet – beginnend mit den ersten (griechischen) Naturforschern. Lange Zeit hielt man Korallen entweder für Steine (ganze Städte wurden daraus errichtet) oder für Pflanzen (Meeresblumen).

Der Revolutionshistoriker Jules Michelet schrieb 1861 in „Das Meer“: Es waren „die Frauen, die hierfür ein feineres Gefühl besitzen als wir, sie haben sich darin nicht getäuscht; haben dunkel gefühlt, dass die Koralle ein Tier ist.“ Jede Koralle lebt in einer Symbiose mit Bakterien und einer Alge – und die Symbioseforschung ist heute noch vor allem „Frauensache“. Die Meeresbiologin Nicole Dubilier, Leiterin der Abteilung Symbiose im Bremer Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie wurde gefragt, wie das kommt: „Ist doch klar, es geht um Kooperation,“ sagte sie. Das gilt auch für viele Untersuchungsobjekte der Symbioseforscherinnen, denn bei vielen Meerenstieren bergen einzig die Weibchen Symbionten in sich, die sie auch nur an ihre weiblichen Nachkommen weitergeben.

Die Kunsthistorikerin Julia Voss hat den Darwinschen „Stammbaum“ der Arten, der die Evolution von den Amöben ganz unten bis hoch zu den Menschen in der Krone skizzierte und den der deutsche Biologe Ernst Haeckel dann ausmalte, 2007 umgedeutet: Darwins diesbezügliche Bleistiftskizze soll in Wahrheit eine Koralle darstellen, die einem sich verzweigenden Rhizom oder Netzwerk (alles Modewörter) ähnelt. Bei dieser quasifeministischen Umdeutung des Evolutionsbildes kam es auch noch zu einem Prioritätenstreit mit einem Mann, der ebenfalls ein ganzes Buch darüber schrieb, dass der Baum des Lebens eigentlich eine Koralle des Lebens sei. Im Moment des großen Artensterbens haben laut Jutta Person „unbekannte Vielheiten Konjunktur“; in den „riffbildenden Korallen“ findet sich dazu „ein geradezu perfektes imaginäres Objekt“.

Der dumpfe „deutsche Naturfilm über Korallen“ (auf Youtube) bleibt jedoch ein Mackerwerk. Für die Filmer ist das Korallenriff „ein Dschungel, in dem nur die Stärksten überleben“. Denken wir an den Sommerhit 1963 „Rote Korallen“ der späteren griechischen Europa-Abgeordneten Nana Mouskuri (Ich brauche kein Gold und keine Perlen, nur meine Korallenkette von Ihm für ewig), dann sind die „Stärksten“ in diesem „Dschungel“ im Meer die Frauen, die sich derart mit der magisch aufgeladenen Roten Koralle schmückten, dass die sie gewaltsam hochholenden Korallenfischer die mittelmeerische „Edelkoralle“ fast ausgerottet hätten: 2010 werden immer noch über 500 Tonnen „geerntet“. Zum Glück kamen rechtzeitig für die Roten Korallen andere Tierarten in Mode bei den Frauen: Paradiesvögel, Strausse, Leoparden, Biber, Seeotter, Zobel etc., die dann ebenfalls bis an den Rand der Vernichtung verfolgt wurden.

Eine zeitlang gerieten die Korallen auch bei den politisierenden Männer in Mode: In seiner hymnischen Naturgeschichte „Das Meer“ begriff der Historiker Jules Michelet die Lebensgemeinschaft „Korallenriff“ als Verwirklichung der „Ideale von 1789“. Der linke Biologe Carl Vogt entdeckte 1866, dass „der Korallen-Polyp Socialist und Communist in der verwegensten Bedeutung des Wortes ist; nur durch gemeinsame Arbeit vieler, engverbundener Thiere kann der werthvolle Korallenstock aufgebaut werden, und diese gemeinsame Arbeit ist nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Einzelwesen allen Gewinnst seiner ernährenden Thätigkeit an die Allgemeinheit abgiebt.

Auch Ernst Haeckel sah im „Korallenstock“ das „wirklich gewordene Ideal der Sozialdemokratie“, die „vollste Gütergemeinschaft“. Später präzisierte er: „Ihre Ernährung beruht auf vollständigem Kommunismus.“

Jutta Person fand im Marxschen „Kapital“ noch einen Korallenhinweis: „Bei den Korallen bildet jedes Individuum den Magen für die ganze Gruppe. Es führt ihr aber Nahrungsstoff zu, statt wie der römische Patricier ihn wegzuführen.“ Die Korallen werden für Jutta Person „mit Marx zu neuen antikapitalistischen Helden. Wenn auch nur in einer Fußnote“.

Neben Jutta Persons Korallen-Buch, das kürzlich in Judith Schalanskys Reihe „Naturkunden“ erschien, veröffentlichte dort auch noch die holländische, in Schottland lebende Künstlerin und Schleusenwärterin Miek Zwamborn ein Buch über Algen. Jutta Person mußte für ihr Thema tauchen lernen, Miek Zwamborn brauchte bloß an diversen Stränden entlang zu gehen, daneben hat sie aber noch diverse Naturkundemuseen besucht. Leider findet sich in ihrem Algenbuch nichts über den Algenforscher Pawel Florenski. Das sei hier ergänzt:

Pawel Florenski studierte ab 1900 in Moskau Mathematik bei Nikolai Bugajew, Philosophie bei Sergej Trubezkoi und Psychologie bei Lew Lopatin, 1904 kam er in Kontakt mit der literarischen Gruppe der Symbolisten, Andrej Bely legte ihm eine Beschäftigung mit der Anthroposophie nahe, daneben las Florenski Goethe, schließlich wandte er sich einem geistlichen Führer, dem Starez Isidor, zu. 1910 heiratete er die Bauerntochter Anna Michailowna Giazintowa, aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. 1911 wurde er zum Priester geweiht, er lebte jedoch von Veröffentlichungen, Vorträgen und Lehrtätigkeiten. 1920 übernahm er die Leitung der Forschungen zur Anwendung von Kunstharz in der Elektrotechnik in der Moskauer Fabrik „Karbolit“.

In seinen Schriften kritisierte er die Zentralperspektive, die er zugunsten der Ikonenmalerei verwarf, weil jene „eine Maschine zur Vernichtung der Wirklichkeit“ sei, während diese ein „synarchisches Feld“ zu denken erlaube. 1922 erschien sein Buch „Imaginäre Größen in der Geometrie“, an dem er 20 Jahre gearbeitet hatte und das u.a. von Ossip Mandelstam, Wsewolod Iwanow, Maxim Gorki, Jewgeni Samjatin und Michail Bulgakow gelobt wurde, die offizielle Kritik monierte dagegen insbesondere das Schlußkapitel, in dem er das Weltbild in Dantes „Göttlicher Komödie“ mit Hilfe der Relativitätstheorie interpretierte. Dies wird später einer der Anklagepunkte sein, die zu seiner Verhaftung und Inhaftierung führen, obwohl die Zensur etliche Passagen darin vor Drucklegung gestrichen hatte, worüber er sich in einem Brief „An die Politabteilung“ beschwerte.

Von 1925 bis 1933 ist Florenski Leiter der Abteilung für Materialkunde am Staatlichen Forschungsinstitut für Elektrotechnik. 1928 wird er jedoch vorübergehend verhaftet: Man wirft ihm vor, unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Arbeit religiöse Propaganda betrieben zu haben, er wird nach Nishni Nowgorod verbannt, wo er im Radiolaboratorium arbeitet. Gorkis erste Frau, Jekaterina Peschkowa, bemüht sich als Leiterin des Politischen Roten Kreuzes um seine Rückkehr nach Moskau“. Sie hat schließlich Erfolg. 1930 holt man Florenski als stellvertretenden Direktor für Wissenschaft ans Allunionsinstitut für Elektrotechnik in Moskau. Am 25. Februar 1933 wird er jedoch erneut von der GPU verhaftet und schon einige Monate später wegen „Konterrevolutionäre Agitation und organisierte konterrevolutionäre Tätigkeit“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit an der Baikal-Amur-Magistrale in Ostsibirien verurteilt, wo man ihn dann der Abteilung für wissenschaftliche Forschung zuteilt. 1934 überführt man ihn ins Amurgebiet, auf eine Versuchsstation zur Erforschung von Dauerfrostböden. In Moskau versucht derweil die Familie, seine Freilassung zu erwirken. Der tschechoslowakische Botschafter in Moskau bietet an, den Verurteilten in seinem Land aufzunehmen, Florenski lehnt jedoch unter Berufung auf den Apostel Paulus (Phil. 4,11) ab: „…ich habe gelernt, worin ich bin, mir genügen zu lassen“.

Im Herbst 1934 überführt die GPU ihn auf die Solowki-Inseln im Weißen Meer, dem ersten bolschewistischen Straflager. Er soll sich dort mit Meeresalgen befassen und beim Aufbau einer Fabrik zur Gewinnung von Jod und Agar-Agar aus Algen helfen. In den darauffolgenden dreieinhalb Jahren gelingt es ihm, dafür zehn Patente anzumelden. Daneben hält er dort fast täglich wissenschaftliche Vorträge über Algen und schreibt Briefe (vier im Monat sind ihm erlaubt) vor allem an seine Kinder, seine Frau und seine Mutter – über 150 insgesamt. Sie wurden auf Deutsch 2001 im Dornacher Anthroposophenverlag Pforte veröffentlicht unter dem Titel „Eis und Algen“, herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, die daneben auch für eine zehnbändige Ausgabe seiner Werke im Berliner Kontext-Verlag verantwortlich sind.

Im Vorwort zu dem Band mit „Briefen aus dem Lager“ heißt es an einer Stelle: „Kein Wunder, schreibt Florenski einmal seiner Frau, wenn bei so vielen ein- und ausgehenden Briefen die Zensoren an nervlicher Zerrüttung litten. Und: Eigentlich sei er mit seiner Isolierung auf den Solowki-Inseln am Ziel seiner Wünsche angelangt. Als Jüngling habe er immer davon geträumt, ins Kloster zu gehen, jetzt lebe er im Kloster, nur dass es eben zum Lager gehört. Als Kind sei es sein sehnlichster Wunsch gewesen, auf einer Insel zu wohnen, Ebbe und Flut zu erleben und sich mit Algen zu befassen. ‚Nun bin ich auf einer Insel, hier herrscht Ebbe und Flut, und ich werde bald mit Algen zu tun bekommen‘.“

Nachdem jedoch die Algenerforschung sowie die Jod- und Agar-Agar-Testproduktion auf den Solowki-Inseln erfolgreich verlaufen ist, wird das Projekt aufs Festland verlagert – und Pawel Florenski erschossen: am 8. Dezember 1937. Er wurde 55 Jahre alt. 1959 wird er offiziell rehabilitiert, 1989 wird seiner Familie eine Sterbeurkunde ausgestellt. Inzwischen hat die orthodoxe Kirche ihn heilig gesprochen. Das Bild zeigt Florenski mit Bulgakow:

Brief v. 26.11. 1934 (an seinen Sohn Michail)

Es gibt hier viele Algen und wohl auch Muscheln. Die Stürme werfen die Algen (oder „Meerespflanzen“, wie man sie auch nennt) auf den Strand, so daß sich Wälle von mehreren Kilometern Länge, 1 1/2 Metern Höhe und mehreren Metern Breite bilden. Diese Meerespflanzen sind eßbar (giftige gibt es gar nicht), aber ihre Zubereitung ist ziemlich kompliziert. In manchen Ländern werden sie leicht angekocht, dann getrocknet und so gegessen, aber das schmeckt nicht besonders. In Amerika, Japan, China, Indochina, England, Schottland u.a. Ländern werden Algen sehr viel gegessen, man macht die verschiedensten Dinge daraus. Konfekt, Konfitüre, Blancmanger [Mandelpudding], Kissél [Fruchtpudding], Speiseeis, Salate, Soßen, Sauermilchpudding, ich glaube sogar Gebäck. Bei uns sind wir noch nicht soweit, die Algen auf diese Weise zu verwenden, wir stellen aus ihnen nur Jod her. Man kann aus Algen viele verschiedene technisch wichtige Stoffe gewinnen: einen besonderen Klebstoff, das Algin, dann Zellulose, Mannit, verschiedene Lösungsmittel für die Lackindustrie, Kalisalze usw. Vorerst wird aus den Algen aber nur Jod gewonnen; die Algen werden zu Asche verbrannt, dann wird die Asche in Lauge gewaschen und in diesem Wasser das Jod aus dem Kaliumjodid freigesetzt. Die Asche enthält auch noch Chlorkalium, schwefelsaures Kalium, Soda, Bromkalium und andere nützliche Stoffe. Ich küsse Dich innig, lieber Mik. Folge Mamma, sei lieb zu ihr und vergiß Deinen Papa nicht. Brief v. 3.12. (an seine Frau Anna)

Die Werkstatt, in der ich arbeite, befindet sich am Ufer ddes Blagopolutschied-Hafens. Es ist eine armselige kleine Werkstatt, an deren Tür das stolze Wort ‚LABORATORIUM‘ prangt. Das steht zwar nur auf dem Schild, aber es ist doch befriedigend, es beim Eintritt zu lesen. Manchmal bin ich aber auch in einem richtigen Laboratorium, es ist klein, aber für die Verhältnisse von Solowki recht anständig. Es liegt zwei Kilometer vom Kreml entfernt im Wald am Ufer eines Sees. Brief v. 14.12. (an seinen Sohn Kirill)

– Ich teile Dir eine Beobachtung mit, die ich gemacht habe, ich glaube, sie kommt in der Literatur nicht vor. Sie ist von Bedeutung für die Mineralogie, etwas Analoges zum Alexandrit. Es handelt sich um folgendes: Bei der Jodgewinnung nach dem sog. Bichromatverfahren wird der Extrakt aus Algenasche mit Bichromat und Schwefelsäure behandelt. Diese Lösung zeigt sowohl vor als auch nach der Entfernung des Jods je nach Art der Beleuchtung eine Zweifarbigkeit. Bei abendlicher (künstlicher) Beleuchtung, zum Beispiel bei elektrischem Licht, ist die Lösung von violett-purpurner Farbe, bei Tageslicht dagegen ist sie smaragdgrün. Der Unterschied in der Farbe ist so verblüffend, daß man nicht glaubt, es handle sich um ein und dieselbe Flüssigkeit. Da das Jod hier keine Rolle spielt, zeigt sich vermutlich der Unterschied auch bei einer sehr schwachen Lösung von Bichromat und Schwefelsäure. Man kann aber auch versuchen, Kalium-Jodid hinzuzufügen, das das Bichromat auflöst und zu anderen Chromverbindungen führt. Dieser Versuch ist so schön, daß es sich lohnt, ihn nachzumachen, um das mit eigenen Augen sehen zu können. Vermutlich kann man durch eine Veränderung des Mediums erreichen, daß das Purpurviolett ind Rot übergeht. – Küß Mama und die Kinder und sag ihnen, daß ich ihnen in Kürze einzeln schreiben werde. Brief v. 14.12. (an seinen Wohn Wassili)

Im Augenblick denke ich (privat, das gehört nicht zu meinen dienstlichen Aufgaben) über den Aufbau einer komplexen Produktion hier nach, eines ganzen Kombinats zur Gewinnung von Brom aus Meerwasser unter Ausnutzung der Wind- und Gezeitenenergie, über einen wohlabgestimmten Zyklus verschiedener Prozesse und Produkte. Ein schöner Plan, aber ehe ein Projekt daraus wird, ist noch viel Arbeit nötig, leider braucht man auch Bücher, die hier nicht vorhanden sind. Dennoch werde ich mit einigen Spezialisten über die Sache nachdenken. Dann prüfe ich nach und nach verschiedene Varianten der Gewinnung von Jod und anderen Produkten aus Meeresalgen. Die Beschäftigung mit den Algen und dem Brom verspricht interessante Ergebnisse, die in engem Zusammenhang mit meinen Arbeiten über die Elektromaterialien stehen. Brief v. 21/22 6. 1935 (an seinen Sohn Wassili)

Im Augenblick studiere ich die Alginate, speziell das Natrium- und Kaliumalganit, die ich aus Algen gewinne. Diese Stoffe können das importierte Tragant und Gummiarabikum sehr gut ersetzen, u.a. in der Textilindustrie beim Stoffdruck u..ä. Ihre Bindekraft ist erstaunlich: Eine 8%ige Alginatlösung hat eine bedeutend höhere Bindekraft als eine 32%ige Gummiarabikumlösung, ist also mehr als 4mal so ergiebig, ganz zu schweigen vom Preisunterschied. Andererseits ist ihre Kapillaritätskonstante nur etwa halb so groß wie die des Gummiarabikums, daher werden selbst schwache Lösungen in bedeutend geringerem Maße aufgesogen, was wiederum von großem Vorteil ist sowohl in bezug auf den Materialverbrauch als auch auf die Druckqualität. Die Messungen der physikalisch-chemischen Konstanten müssen mit improvisierten Geräten vorgenommen werden. Bei meiner mathematischen Bearbeitung der Meßergebnisse habe ich einiges gefunden, was von der Kolloidchemie bisher nicht geleistet worden ist….Ich küsse Dich, mein Lieber Brief v. 5./6.9. (an seine Frau Anna)

Im Augenblick arbeite ich in dem neugeschaffenen Konstruktionsbüro; ich bin hauptsächlich damit beschäftigt, eine Reihe unserer Erfindungen auf dem Gebiet der Algenverarbeitung und der Nutzung von Algin und Alginat zum Patent anzumelden. Außerdem sind ein paar Artikel zu schreiben. Und bald werde ich mich mit dem Projektieren von Chemischen Fabriken zu befassen haben… Brief v. 24./25. 9. (an seinen Sohn Michail)

Ich lebe hier wie auf Jules Vernes ‚Geheimnisvoller Insel‘ – alles muß selber ausgedacht und aus fast nichts hergestellt werden, nichtsdestoweniger ist dabei etwas herausgekommen. Habt ihr die Natriumalginatblättchen erhalten? Das ist ein Algenprodukt, esläßt sich auf die erstaunlichste Weise verwenden, davon werde ich Dir in den nächsten Briefen erzählen… Brief v. 15.11. (an seine Mutter)

In letzter Zeit haben mich die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten eines Algenprodukts, nämlich des Algins, beschäftigt. Es sind unzählig viele, ganz unterschiedliche Anwendungsbereiche, die da in Frage kommen. Vielleicht sind einige der von mir aufgespürten längst bekannt, und da ich keinen Zugang zur Literatur habe, entdecke ich sie noch einmal. Ich stelle Pauspapier her, verschiedene Arten Zeichen- und Malpapier, Packpapier, Papier für Ölmalerei u.ä., dann Farben, Fixative, Leim, Substanzen zum Beschichten verschiedener Oberflächen usw. Insbesondere reparieren wir alte Gummischuhe und gießen Stiefelnähte aus, damit sie wasserdicht sind. Ich habe 4 Artikel für die Zeitschrift des BBK geschrieben, weiß aber nicht, ob sie sie dort drucken können, denn sie sind ziemlich lang. Ich schreibe unzählige Notizen für Wandzeitungen zu verschiedenen technischen Fragen, vor allem im Zusammenhang mit Algen. Brief v. 16-23.12. (an seine Frau Anna)

Ich bin gesund, leide an nichts Not, arbeite im Laboratorium mit Algen und Sphagnum und lebe unter erträglichen Bedingungen, halte Vorlesungen über Mathematik, schreibe allerhand technische Notizen, bin den ganzen Tag von morgens bis spät in die Nacht beschäftigt – das ist Pflicht und ist zugleich nützlich für mich, es erstickt die Sehnsucht. Brief v. 7-11.1. 1936 (an seine Frau)

Meine Arbeit geht in der gewohnten Richtung weiter, ist aber durch die Ausdehnung der Experimente etwas komplizierter geworden. Wir sind schon halbwegs am Produzieren und rechnen täglich mit 2-3 kg Algin und 2 kg Agar. Schon für diese Menge müssen bedeutende Massen Rohstoff verarbeitet werden und damit große Wasserbottiche vorhanden sein. Der Rohstoff wird in Wasser aufgekocht, dann filtriert, gefroren, wieder aufgetaut, eingedampft und getrocknet, das erfordert Aufmerksamkeit, eine entsprechende Apparatur, die allerdings sehr einfach ist, eine riesige Menge verschiedener Gefäße usw. Da es sich bei diesen Vorgängen um Versuche handelt, muß ständig gewogen, gemessen, protokolliert, gerechnet und analysiert werden. Jede einzelne Operation ist nicht weiter kompliziert, aber im ganzen, wenn man bedenkt, wieviel Vorgänge aufeinander abzustimmen und welch große Mengen Rohstoff zu bewegen sind, ist es schon ein beachtliches Unternehmen. Neben den Versuchen halte ich Vorlesungen – 3mal zwei Stunden die Woche, und einmal muß ich zur Sitzung des BRIS (des Büros für Erfindungen). Brief v. 7.-13.2. (an seine Frau Anna)

In diesen Tagen erblickten wir die Früchte unserer Mühen: Ein Konditor hier hat Marmelade auf der Grundlage von Agar aus unserer Produktion hergestellt und war mit dem Ergebnis höchst zufrieden. Auf die Marmeladenmasse kam 1 1/2% Agar, aber das war schon etwas zu viel, es genügen 1,2%, d.h. es entspricht gutem Auslandsagar. In letzter Zeit war es klar und kalt, genau das Richtige für unsere Versuche….Tag und Nacht wird ununterbrochen gearbeitet, und meine Gehilfen dürfen nicht ohne Aufsicht bleiben, sonst kommt es zu Versäumnissen. Brief v. 24-25.3. (an seine Tochter Maria-Tinatin)

Heute brachte man mir ganz frische Algen, die man mit einer besonderen Vorrichtung vom Grunde des Meeres unter dem Eis hervorgeholt hat (das Eis ist dieses Jahr nicht dick, 80 cm). Es sind fleischige, elastische große algen aus der Klasse der Braunalgen, der Ordnung der Laminarien. Sie heiße Laminaria digitata, d.h. Fingerlamelle, weil das ‚Blatt‘ der Alge einer riesigen Hand mit gespreizten Fingern ähnelt. Außerdem gibt es Laminaria saccharina, d.h. Zuckerlamelle, sie ist ziemlich süßt. Ich habe sie gekostet, sie ist recht fest, aber äußerst schmackhaft, leicht salzig, erinnert an Sauerkraut, nur daß sie nicht sauer schmeckt. Die Algen saugen sich (mit ihren Rhizoiden, so etwas wie Wurzeln) an Steinen fest, um sich im Wasser Halt zu verschaffen, ernähren sich aber eigentlich nicht durch die Wurzeln, sondern sie nehmen ihre Nahrung über die ganze Oberfläche direkt aus dem Wasser auf. Von Mitte Juli bis Ende August vermehren sich die Laminarien mittels Sporen. Bei der Saccharina entwickeln sich die Sporen in der Mitte des ‚Blatts‘, bei der Digitata an den Blattenden. Die Sporen zeigen sich als einzelne rote Punkte, etwa wie beim Farn. Ich küsse mein liebes Töchterchen innig und erwarte die Ankunft der Möwen, um von ihnen etwas über mein Töchterchen zu erfahren. Brief v. 8.-10.4. (an seine Frau Anna)

Du fragst nach den Algen. Deine Fragen lassen sich nicht mit einem Satz beantworten. Es gibt 13 Klassen von Algen; im Weißen Meer wurden von den 4 bedeutenderen Klassen 121 Arten und 129 Formen gefunden,…

. Eine Ideal-Fusion: Der einstige Zyklon B-Hersteller übernahm den Agent-Orange-Produzenten – für 63 Milliarden Dollar. Der Leverkusener Chemiekonzern (mit eigener Akademie, 100.000 Mitarbeitern, 12.000 sollen jedoch entlassen werden) hat keinen guten Ruf. Und das Biotechnologie-Unternehmen aus St. Louis ist der weltweit verhassteste Konzern überhaupt, mit einer eigenen Söldnertruppe, der Patenverletzungen verfolgt. In den USA hieß es, Monsanto habe den für das Pentagon u.a. im Irak tätigen Söldnerkonzern Blackwater, der jetzt Academi heißt, übernommen. Das macht insofern Sinn als die Ukraine eines der größten Absatzmärkte für Monsanto war (und ist) – mit seinen transgenen Maissorten sowie dem Agrargift Glyphosat („Roundup“ mit Markennamen). Und der Kriegskonzern Blackwater/Academi, der wegen Massaker seiner Söldner in Bagdad juristische Probleme hat, sich gleichzeitig an der Front zur Ostukraine „engagiert“. Die harten Jungs waren oder sind quasi Feldhüter für das genmanipulierte Schwarzerde-Getreide und dienten damit bereits Monsanto. Aber dass dieser Konzern daraufhin Blackwater/Academi übernahm, war wohl eine „Ente“.

Dafür übernahm Bayer jubelnd Monsanto, aber schon bald dämmerte es seinen Entscheidungsträgern, dass die Amis (bis hin zur Linda und Bill Gates, die mit ihrer Stiftung nebst Warren Buffets Zustiftung sowie der Weltgesundheitsorganisation mit genmanipulierten Lebewesen globale Verbesserungen anstreben), sie über den Runden Tisch gezogen hatten: unfair – schon, dass Buffet vorab noch schnell für mehrere Milliarden Dollar Monsanto-Aktien gekauft hatte. „Diente die Monsanto-Übernahme nur dazu, Bayer zu plündern?“ fragte sich deswegen das „contra-magazin“ kürzlich.

Die juristischen Klagen wegen des Krebs erzeugenden Allround-Vernichtungsmittels Glyphosat (Nachfolger des ebenfalls Krebs erzeugenden DDT), summierten sich auf bis jetzt 13.400 Fälle. Ende 2018 sprach ein US-Gericht einem krebskranken Hausmeister, der mit Roundup gearbeitet hatte, 289 Millionen Dollar zu, die von Bayer gezahlt werden sollten, denn die Leverkusener haben inzwischen den Monsantokonzern (mit Niederlassungen in 61 Ländern) integriert und den Firmennamen getilgt. Das Urteil war der erste Tiefschlag: Die Bayer-Monsanto-Anwälte hatten stets mit den besseren wissenschaftlichen Untersuchungen argumentiert, wonach es keinen Zusammenhang zwischen Glyphosat und Krebs gäbe. Es gab jedoch einen zwischen den Wissenschaftlern und ihren Auftraggebern – Monsanto/Bayer.

Die zweite „Enttäuschung“ für Bayer-Chef Werner Braumann kam aus der Börse, wo gleich nach dem Urteil im „Glyphosat-Prozeß“ in der Ökostadt San Francisco die Aktien der Bayer AG sieben Milliarden Euro weniger wert waren. Sodann hieß es: „Indiens Baumwollanbauer wollen kein Monsanto-Saatgut mehr“, „Ungarn sagt Nein zu Monsanto-Genmais“ (und verbrennt die Maisfelder), „Argentinien schmeisst Monsanto raus“, „Wir haben es satt“, so die „Brot für die Welt“-Sprecherin aus Südafrika, wo noch zu 85% Monsantomais angebaut wird.

Es läuft also alles darauf hinaus, dass die Bundesregierung, die Bayer AG wie schon 1999 den Baukonzern Holzmann mit Staatsgeldern in Milliardenhöhe „retten“ muß. Damals entschied dies der Kanzler (Schröder) unter dem Jubel der Holzmann Belegschaft. Zwei Jahre später ging der Baukonzern dennoch pleite und 25.000 Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz.

In den USA erinnert man sich noch immer gerne an die große „Einkaufstour“ des AEG-Chefs Heinz Dürr und des Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter, nachdem der Elektrokonzern sich mit Daimer-Benz alliiert und dadurch gerettet hatte. Die beiden alten weißen Männer begaben sich über die Atlantikbrücke in den Wilden Westen und erwarben dort eine Firma nach der anderen : „Gebt ihnen eure ganzen Schrottstandorte,“ hieß es bei den Investmentbankern, „Dürr und Reuter zahlen jeden Preis“. Und so geschah es auch. Aber mit dem damit anvisierten neuen „Technologiekonzern“ scheiterten sie. Dürr verließ 1990 die „AEG Daimler-Benz-Industry“, sein Nachfolger stieß erst viele Bereiche wieder ab, übernahm dann aber im Osten jede Menge Fabriken. Das Transformatorenwerk in Oberschöneweide z.B., das mit zig Millionen DM von der Treuhand als altneuer AEG-Standort modernisiert und danach jedoch „abgewickelt“ wurde – so wie die ganze AEG. 1996 war von dem Elektrokonzern nur noch der Markenname „AEG“ übrig, die AEG-Zentrale in Frankfurt wurde 1999 gesprengt.

Ergeht es der Bayer AG bald ähnlich? Schon muß Bayerchef Baumann die Aktionärsversammlung Ende April fürchten, über seinen Rücktritt wird laut nachgedacht, ebenso laut verkündet er: „Ich würde Monsanto wieder kaufen“. Gleichzeitig werden aber schon mal Töchter-Firmen (das „Tafelsilber“)von ihm verkauft. „Das Schicksal des Konzerns liegt jetzt in den Händen von US-Gerichten,“ heißt es auf „Börse-Online“, d.h. es sieht nicht gut aus für die „Krauts“. Inzwischen hat die Bayer-Aktie 40 Prozent ihres Börsenwerts eingebüßt und die Bild-Zeitung fragt sich bang: „Hat Bayer sich den Tod ins Haus geholt?“

Die tagesschau erinnerte daran, dass die wichtigste Studie, die Glyphosat für „wahrscheinlich krebserregend“ hält, von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht wurde. Aber inzwischen ist Bill Gates der „Zeit“ zufolge „heimlicher Chef“ dieser UNO-Organisation – und schon kommt eine neue UNO-Studie (für die EU-Kommission) zu dem Ergebnis, dass Glyphosat „vermutlich nicht krebserregend“ ist.

Mit seiner weltweit größten Stiftung will Gates laut F.R. „die Weltrettung privatisieren“. Im Falle der Malariabekämpfung z.B. hat sie sich mit der Rockefeller Foundation zusammengetan, um es nach dem verlorenen DDT-Feldzug gegen die Moskitos (als den Überträgern der Krankheit), noch einmal zu versuchen. Diesmal haben sie genmanipulierte Weibchen, die Sterilität vererben, ausgesetzt. Diese haben, schreibt Fahim Amir in seinem Buch „“Schwein und Zeit“ (2018), den Vorteil, dass jetzt, in der NGO-Ära, „die Moskitos selbst zu einem kommerziellen Produkt gemacht werden können,“ die sich u.a. an afrikanische Regierungen verkaufen lassen.

Aus den USA kam unterdes die Meldung, dass man dort mit 15.000 Klagen gegen Bayer/Monsanto rechnet, was den Konzern etwa 5 Milliarden Dollar kosten wird. Die FAZ berichtete darüberhinaus unter der Überschrift „Volle Attacke – beim Pharma- und Agrokonzern geht es hoch her“, dass der Konzern unlängst schwerwiegenden „Angriffen von Hackern“ ausgesetzt war. Die Spezialisten vom Bundesnachrichtendienst (BND) wußten dazu erst einmal nur zu sagen: „Weltweit sinkt die Hemmschwelle“. Um den Leverkusener „Global Player“ zu ermürben?

P.S.: Es hört nicht auf:

„Erneute juristische Niederlage für Monsanto. Französischer Bauer gewinnt Rechtsstreit gegen Monsanto,“ berichtet der Spiegel. Auch hier wurde als erwiesen angenommen, dass der Bauer Paul Francois durch die Verwendung eines Unkrautvernichtungsmittels von Monsanto („Lasso“) schwere gesundheitliche Schäden davongetragen hat. Er verlangt 1 Million Euro von Bayer. In den USA verlangen die gesundheitlich Geschädigten 200 mal so viel. Auch wenn sie sich, weil sie als Krebskranke nicht mehr lange Leben, dann auf 80 Millionen Dollar mit Bayer einigen, und der Konzern dafür nicht in Berufung geht.

Auf der Hauptversammlung von Bayer im Bonner „World Conference Center“ (sic) verweigerten die versammelten Aktionäre dem Vorstand die Entlastung. Draußen wurde derweil gegen Monsanto, Glyphosat und noch so manche andere Bayer-Schweinerei demonstriert.

Ende 2018 erkannte ein Luxemburger Gericht das Krebsleiden eines Klägers als Berufskrankheit an und stufte glyphosathaltige Herbizide als Risikofaktor ein. Nun will die Regierung Glyphosat verbieten.

Jetzt habe ich es endlich verstanden. Der „Lamarckist“ Peter Berz, der sich in den letzten Jahren mit Bakterien beschäftigt hat, hielt kürzlich im Hinterzimmer des Kreuzberger Restaurants „Nest“ einen Vortrag mitLichtbildern. Das letzte zeigte den Augustus-Brunnen von Augsburg, wo Berz herkommt.

Sein Vortrag handelte von der Biosphäre, beginnend mit Heideggers Technikkritik, Hölderlins Donau-Hymne, Margulis‘ Symbiosetheorie und Latours terrestrisches Manifest. Das hatten wir in etwa erwartet. Über die Begriffe „Lichtung, Landschaft und Hüten, Wahren, Schonen“ kam er schließlich zu der entscheidenden Klärung des „Göttlichen“ und des „Sterblichen“. Unterdes war klar geworden, der Hüter hat eine Herde, die er beschützen will – u.a. gegen Wölfe. Ähnliches gilt auch für den Acker des Bauern: Hier sind die Wölfe z.B. der Maiszünsler, weswegen Berz sich ausführlich dem gegen diese und weitere Schädlinge genetisch veränderten Mais von Monsanto/Bayer widmete, der heute die landschaftliche Vielfalt frißt.

Während der judäochristliche Hirtengott eine Herde hat, haben die heidnischen Götter einen Raum, sie sind lokal. Im alten Griechenland ebenso wie im heutigen Indien. Die Sterblichen, das sind natürlich wir – Tiere und Pflanzen und Pilze, aber das Territorium bleibt. Und damit die alten Götter.

Peter Berz war an der Humbodt-Universität Assistent des eigensinnigen Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler, der u.a. ein Buch mit dem Titel „Das Nahen der Götter vorbereiten“ veröffentlichte. Die Griechen hatten weder eine Religion noch eine Theologie. Es geht hier z.B. um Flüsse, um ihr Biotop – und, wie der Titel des Vortrags andeutete: um die Biosphäre – ums Ganze also. Und die von Kittler eingeforderte Vorbereitung auf die Götter, das heißt für Berz heute glaube ich, dass man strebend sich bemüht, den Fluß z.B. zu verstehen – das komplexe Zusammenwirken von Gletscherschmelze, Klima, Boden, Wassertiere, Stickstoffeintragungen, menschliche Nutzung und Vernutzung…Und indem man ihn „renaturiert“, ist auch der Flußgott als Subjekt wieder da.

Der Augustusbrunnen zeigt den römischen Kaiser auf einer Säule, die aus dem Wasserbecken aufragt und am Rand drumherum sitzend einige halbnackte Frauen und Männer, die die vier Flüsse von Augsburg symbolisieren, es sind die Flußgötter Lech, Singold, Wertach und Brunnenbach. Der Lech hat einen Kranz aus Fichtenzapfen, ein Wolfsfell und ein Ruder; die Singold eine Ährenkrone aus Dinkel, der Wertach ein Fischernetz mit Fisch und die Brunnenbach ein Füllhorn mit Gartenfrüchten. Es geht nicht darum, diese Flüsse als Götter bzw. Göttinnen anzubeten und auch keine Rituale um sie herum zu flechten – außer den im Wissensbetrieb üblichen (das Einfühlungsvermögen vergrößern, den Stand der Forschung eruieren, das Interesse daran wachhalten, an Exkursionen teilnehmen, sich nasse Füße holen…, denn es handelt sich schließlich um eine Gewässerkunde.)

Der Münchner Biologe Josef Reichholf, der über die überraschende Ansiedlung des Gänsesägers am Lech forschte, empfiehlt „das absolut faszinierende Buch“ des Verhaltensforschers Carl Safina: „Beyond Words“. Dieser kommt darin kurz auf zwei Philosophen zu sprechen, die solch ein Bestreben für unmöglich halten – nicht in bezug auf einen Fluß, sondern auf zwei Tiere: Ludwig Wittgenstein und Thomas Nagel. Jener meinte: „Selbst wenn ein Löwe sprechen könnte, wie würden ihn nicht verstehen“. Und dieser schrieb in seinem Buch „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, dass wir das nie wissen werden, weil sie so ganz anders als der Mensch ist. Der Biologe Safina hält die Meinung der beiden Philosophen für Unsinn, der von Unkenntnis zeugt: Die beiden Tiere sind Säugetiere, sie haben Hunger und Durst, sind zufrieden oder niedergeschlagen, paaren sich, wehren sich, sind verletzbar, haben Angst, sind sterblich – all das trifft auch auf uns zu. „Also macht mal halblang ihr Philosophen,“ sagt er.

Im heidnischen (wilden) Denken ist ein Objekt ein unvollständig interpretiertes Subjekt und im europäischen Denken ist ein Subjekt ein ungenügend analysiertes Objekt. Diese unterschiedliche Wahrheit gilt auch für Flüsse. Erinnert sei hier nur an die vielleicht kleinste limnologische Forschungsstation der Max-Planck-Gesellschaft im hessischen Schlitz, wo es um den kaum einen Meter breiten und vier Kilometer langen Breitenbach geht, der seit den Fünfzigerjahren ganzheitlich – ökologisch – erforscht wird, d.h. in allen Aspekten und Wechselwirkungen: die Umgebung, das Wasser, die Temperatur, Pflanzen, Pilze und Tiere, Mikroorganismen zu verschiedenen Tageszeiten, die Strömung zu verschiedenen Jahreszeiten usw.. Er ist wahrscheinlich das weltweit am gründlichsten untersuchte Fließgewässer. Der Stationsgründer Joachim Illies interessierte sich vor allem für Süßwasserinsekten und mit den Jahren kam er dem dortigen Flußgott immer näher, wobei er den reduktionistischen Neodarwinismus überwand und von der Evolution zum „Religiösen“ gelangte. Da wollen wir nun aber gerade nicht hin – mit dem Griechen Kittler.

Thomas Nagel hebt natürlich bei seinem Objekt Fledermaus darauf ab, dass sie sich Nachts mit einem Sonarsystem orientiert, und zwar so detailliert, dass sie z.B. in einem Raum, in dem haarfeine Fäden gespannt sind, keine einzige im Flug berührt. Ihre Töne sind für uns nur mit Hilfe eines elektronischen „Bat-Detektors“ hörbar. Blinde können aber ihr Gehör derart schärfen, dass sie sich auch anhand der Echos von „Klicklauten“ orientieren – und sogar Fahrrad fahren können. Der feine Hörsinn der Fledermäuse, das ist für uns Nichtblinde der Sehsinn, auf unterschiedliche Weise können wir und sie quasi das Selbe wahrnehmen.

Sie stehen uns natürlich näher als die vier Augsburger Flüsse, aber auch diese sind uns zugänglich – im Detail: die Uferpflanzen, die Fische, die Frösche, die Mäander usw.. Der bayrische Filmemacher Herbert Achternbusch meinte: „Das machen sie gern, die Bäch,“ während der Physiker Albert Einstein versuchte, das Mäandrieren „auszurechnen“. „Allein, wo ist entschieden, dass die Natur für alle Zukunft die Natur der modernen Physik bleiben soll?“ fragte sich Heidegger – und mit ihm Peter Berz in seinem Vortrag – im „Nest“ (weswegen er an einer Stelle auch die Bodenbrüterin und Luftsängerin Lerche erwähnte).

Dialektik der Fliegenzählung

Im Naturkundemuseum fand am 20. und 21. März ein Kongreß über Insekten statt. Seitdem das Insektensterben für Schlagzeilen sorgt, finden häufig solche Veranstaltungen statt. Aber dieser „Tag der Insekten“ war etwas Besonderes, weil er von Hans-Dietrich Reckhaus organisiert wurde: einem Hersteller von Insektenvernichtungsmittel, der mit 60 Mitarbeitern täglich 100.000 Packungen Insektizide produziert. Schon vor der Langzeitstudie des Krefelder Insektenforschervereins, die einen Rückgang der Insekten um über 70 Prozent feststellte, fragte er sich: „Ist ein Dauerwachstum wirklich die richtige Firmenstrategie?“ Und „wieviel Wert hat eine Fliege?“

Zunächst entwickelte der Unternehmer einen Fliegenvernichter ohne Insektizid. Dazu engagierte er zwei Konzeptkünstler, sie sollten sich Gedanken machen, wie man das Produkt vermarkten könnte. Das taten sie auch – und kamen zu dem Schluß: „Ihr Produkt ist Scheiße. Sie müssen Fliegen retten.“ Jedes Produkt tötet 190 Fliegen. Reckhaus sagte sich: „Wenn wir 1000 Fliegen töten, müssen wir 1000 Fliegen retten.“ Mit den Künstlern zusammen konnte er dafür ein ganzes Dorf gewinnen: Die Bewohner retteten 950 Stubenfliegen, eine hieß Erika – sie starb eines natürlichen Todes, allerdings nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Das letzte Bild von ihr befindet sich als Foto unter Glas in der Firma von Reckhaus. Sie personifiziert das „Insekten-Dilemma“: Einerseits sind sie schädlich, andererseits extrem nützlich – und zwar ein und das selbe Insekt. In etwa könnte man das auch über Hans-Dietrich Reckhaus sagen, dessen dialektisches Wirken ihn von einem Saulus zu einem Paulus treibt. Seine Mitarbeiter fürchten bereits um ihre Arbeitsplätze.

Auf der Veranstaltung im Naturkundemuseum berichtete er, dass seine Aktivitäten natürlich in seiner Branche nicht gerne gesehen werden. Der nationale Verband der Insektenvernichtungsmittelhersteller habe ihn schon seit sechs Jahren nicht mehr eingeladen. Neben seinen Insektiziden schafft er immer mehr „Kompensationsflächen“, wo sich Insekten ungestört vermehren können, und er will noch mehr Lebensräume für Insekten schaffen mit seinem Geld. Auf sein Insektengift „recozit“ brachte er den Warnhinweis an: „Tötet wertvolle Insekten“. Dazu meinte er, der inzwischen Träger des deutschen Vordenkerpreises und des Schweizer Ethikpreises ist: „Trau keinem Insektenbekämpfungsprodukt, das nicht selbst vor sich warnt“. Er hat dazu mehrere Bücher geschrieben, eins heißt: „Warum jede Fliege zählt“. Und seine Firmenprodukte, die über sich aufklären, setzen sich langsam durch: Als Großabnehmer gewann er bereits die Drogerieketten „DM“ und „Rossmann“ sowie den Discounter „Aldi-Süd“. Außerdem engagieren ihn immer mehr Unternehmen, damit er ihre ungenutzten Grünflächen in Insektenwiesen umwandelt, dazu will er auch etwas herstellen. „Die Insekten sind bedroht, deswegen muß ich von meinen Produkten weg,“ erklärte er. Auf seiner Konferenz sollte darüber auch eine Staatssekretärin im Ministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Rita Schwarzelühr-Sutter, Aussagen machen, aber sie bemühte wie die meisten Menschen bloß die Worte „Nachhaltigkeit“, „biologische Vielfalt“ und dass „wir ganz viele gute Ideen brauchen“.

Von einem Berliner Insektenforscher erfuhr ich zum Thema „Bienensterben“, dass es viel zu viele Bienen gäbe: Auf den weniger werdenden Flächen mit Blumen fallen sie mit 20.000 Tieren ein – und verdrängen alle anderen Bestäuber, die ebenfalls vom Nektar leben: Wildbienen, Hummeln, Fliegen, Schmetterlinge usw..Honigbienen sind also auch Insektenvernichter. Und das „Bienensterben“ demnach ein wahrer Segen?

Der Direktor des Naturkundemuseums Johannes Vogel stellte Reckhaus das Haus kostenlos zur Verfügung. In seiner Rede führte Vogel aus, was sie für Anstrengungen unternehmen, um vor allem das junge Publikum für den Erhalt der Artenvielfalt zu sensibilisieren. Pro Jahr sterben 58.000 Tierarten aus. Sie, als „Haus des Todes“, in dem zig Millionen tote Tiere liegen, und jährlich 300- bis 400.000 neu hinzukommen, hätten da eine besondere Verantwortung. Die Insektensammlung des Museums, die allein 30 Millionen Tiere umfaßt, soll zukünftig auf Webseiten präsentiert werden. Geplant sind ferner Aktionstage und Patenschaften für Insekten.

Es wird immer mal wieder über die „Lichtverschmutzung“ geklagt, die verhindert, dass man in den Städten nachts die Milchstrasse nicht mehr sieht, und die zudem mit der Lichtwerbung zunimmt. „In Berlin ist der nächtliche Himmel 300 Mal heller als auf einer Nordseeinsel,“ haben Lichtforscher an der TU Berlin herausgefunden, „in einer niederländischen Stadt liegt der Faktor sogar bei 10.000.“ Auf Satellitenaufnahmen vom nächtlichen Europa erkennt man, dass die Lichtverschmutzung vor allem in und um Belgien herum deutlich wird. Dort sind auch die Autobahnen Nachts beleuchtet. „Der Grund hierfür ist die hohe Grundlast der Atomkraftwerke, die in der Nacht jeden Abnehmer brauchen.“

Ebenfalls in Berlin wiesen Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie in einer Studie zur Auswirkung von künstlicher Beleuchtung auf Insekten nach, dass die „Lichtverschmutzung“ bereits die Insektenlarven im Wasser anzieht und dass „die jährlich um rund 6 Prozent zunehmende künstliche Beleuchtung einen Anteil am „Insektensterben“ hat. Zwei Wiener Wissenschaftler zählten die Opfer: „In den Sommermonaten werden etwa 150 Insekten pro Straßenlampe und Nacht getötet. Eine zwei Meter hohe blau-weiße Leuchtschrift aus drei Buchstaben zog im Stadtgebiet von Graz innerhalb eines Jahres 350.000 Insekten an.“ Mainzer Forscher haben hochgerechnet, dass an den 7 Millionen Straßenlaternen, die es in Deutschland gibt, jede Nacht etwa eine Milliarde Insekten sterben.

Da viele nachtaktive Fluginsekten vor allem auf kurzwelliges Licht reagieren, hat man angefangen, über das Licht der Straßenleuchten politisch zu denken. Frühzeitig hat man z.B. in Augsburg, wo die Universität ein „Wissenschaftszentrum Umwelt“ besitzt, das kalte weiß-blaue Straßenlicht aus 25.000 Quecksilberlampen und Leuchtstoffröhren ausgetauscht durch das warme Licht von Natriumhochdrucklampen (in der DDR waren sie zuvor bereits fast flächendeckend eingesetzt worden). In Augsburg hat man nach einiger Zeit festgestellt, „dass zehn Mal weniger Insekten nachts daran sterben“ und dass die Stadt viel Geld damit gespart hat, da sie weniger Strom verbrauchen. Mit der neuen Straßenbeleuchtung habe man „Ökologie und Ökonomie zusammengebracht“.

Die allgemeine Entwicklung geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung, insofern die Kommunen ihre Straßenbeleuchtung mehrheitlich auf Leuchtdioden umstellen, und das Licht dieser in Modulen angebrachten LEDs fatalerweise meist „einen Peak im – kurzwelligen – blauen Bereich“ hat, wie der Lichtforscher der TU bedauert. Eine Schweizer Studie mit Blütenpflanzen ergab 2017, dass Pflanzen unter künstlichem Licht „um 62 Prozent weniger besucht werden als ihre Artgenossen im Dunkeln.“ Die Nachtfalter z.B. würden in einem Radius von ca. 23 Metern von einer Straßenlaterne angezogen, da in Europa der Abstand zwischen den Laternen 25 bis 45 Meter betrage, werde „eine erleuchtete Straße zur Barriere für Insekten“. Zudem hält das Licht sie vom Bestäuben ab und verfremdet wahrscheinlich die Blütenfarben auf eine sie irritierende Weise.

Die für die Elektronisierung der Straßenbeleuchtung verantwortlichen Bürgermeister sind auch im Hinblick auf ihre Ökonomie oft nicht zufrieden: Die eigentlich „unsterblichen“ LEDs werden zwar immer billiger, aber auch immer kurzlebiger. Und wenn in einem Modul einige fast erloschen sind, dann kann man sie nicht einfach mit neuen, die 30 Cent kosten, austauschen, sondern es muß jemand kommen und das ganze Modul auswechseln. Darüber hatte man zuvor schon in Berlin bei den von Siemens/Osram auf Leuchtdioden umgestellten 2091 Ampelanlagen geklagt, wo aus versicherungstechnischen Gründen bereits bei wenigen ausgefallenen LEDs das ganze runde LED-Cluster ausgetauscht werden muß.

Ein seit sechs Jahren laufender Feldversuch in den Niederlanden, bei dem mehrere Reihen von Straßenlaternen mit verschiedenfarbigem Licht – Grün, Rot, Weiß und Dunkel aufgestellt wurden, ergab, dass nicht nur die Fluginsekten, sondern die ganze Flora und Fauna unter der „Lichtverschmutzung“ leidet. Einige der Daten aus der Studie flossen in die niederländische Verordnung für Außenlicht ein, heißt es auf „spektrum.de“. Ein Münchner Insektenforscher plädiert zum Schutz von Insekten für eine Straßenbeleuchtung „mit weniger UV-Anteilen, was heißt, von weißem auf gelbes Licht umzustellen.“

Während die Biologen die „Unersetzbarkeit“ der Insekten herausarbeitenund sich mit den Himmelsbeobachtern weniger Licht wünschen, sind die Lichtingenieure und -forscher von einer ständigen Verbesserung der LEDs überzeugt, so dass es bald auch welche geben wird, die weniger oder sogar keine Insekten anziehen, und zudem mit weniger Licht (Stromkosten) die Straßen dennoch besser beleuchten. Zunächst verlangen aber erst einmal immer mehr Bürger aus Sicherheitsgründen zusätzliche und hellere Straßenlampen – egal ob ökologische oder ökonomische, und selbst wenn die Kunde aus den USA sich bewahrheitet, dass die LEDs auf Dauer blind machen und unser Nervenkostüm zerrütten… So forderten z.B. die Bewohner des Beusselkiez in Moabit nach einer Serie von Einbrüchen bloß: „Mehr Licht!“

Streit unter Naturethikern und -forschern

Der Merve-Verlag wollte wieder einmal zur feministischen Theoriebildung beitragen bzw. an sie erinnern – mit einem Sammelband: „dea ex machina“, herausgegeben von Armen Avanessian und Helen Hester. Es findet sich darin u.a. ein Beitrag der kanadischen „Radikalfeministin“ aus Kanada Shulamith Firestone: „Feminismus und Ökologie“. Der 2012 gestorbenen Autorin geht es um die unausweichlich zu einer Katastrophe führenden „Bevölkerungsexplosion“, für die sie den „besonderen Chauvinismus, den die Familie hervorbringt“, verantwortlich macht. Einmal aufgrund ihrer „patriachalischen Mentalität“ und zum Anderen wegen ihres eingeschränkten Horizonts: „Warum sich über das Wohl der ganzen Gesellschaft den Kopf zerbrechen, Hauptsache wir und die unseren sind ‚glücklich‘.“ Dazu führt sie eine Reihe von Demographen an, deren Warnungen sie jedoch für wenig wirksam hält, denn „was könnte abstrakter und öffentlicher sein als eine demographische Statistik? Und was könnte privater und konkreter sein als die eigene Fortpflanzung?“ Dagegen hilft laut Shulamith Firestone nur „die Zerstörung der Klassengesellschaft und der Familie,“ kurzum: eine „feministische Revolution“.

Der Zufall will es, dass derzeit wieder einmal über das weltweite Bevölkerungswachstum und wie es zu entschleunigen ist, gestritten wird. Die Vorschläge dazu kamen erneut von dem in den USA lehrenden „Naturethiker“ Peter Singer, seine Reduktionsvorschläge soll gleichzeitig den von Ausrottung bedrohten Menschenaffen zugute kommen. Im deutschsprachigen Raum hat ihn die Giordano-Bruno-Stiftung zu ihrem Vordenker erkoren. Sie setzt sich dafür ein, die Menschenrechte auf die Menschenaffen auszudehnen. Die Stiftung wurde 2004 vom Möbelhersteller Herbert Steffen ins Leben gerufen, er hatte zuvor den Kirchenkritiker Karlheinz Deschner gefördert, der an einer umfangreichen „Kriminalgeschichte des Christentums“ arbeitete. Aus gesundheitlichen Gründen mußte er im 18. Jahrhundert mit dem zehnten Band aufhören, 2014 starb er. Deschner war überzeugter Vegetarier, in Interviews sagte er, wenn er noch einmal leben könnte, würde er seine Kraft einer noch hoffnungsloseren Thematik widmen als der Bekämpfung des Christentums – dem Tier.

Zu den vielen christlichen Verbrechen zählt auch die Ermordung des Priesters Giordano Bruno, der die „kopernikanische Wende“ in seinen europaweit gehaltenenen Predigten aufnahm – und deswegen 1600 in Rom als Ketzer verbrannt wurde. Im Jahr 2000 erklärte der Papst seine Hinrichtung für Unrecht. Die Giordano Bruno Stiftung beauftragte als erstes den beim „Humanistischen Pressedienst“ (hpd) engagierten Philosophen Michael Schmidt-Salomon, ein „Manifest“ für einen neuen „evolutionären Humanismus“ zu entwerfen – mit klarem „naturalistischen Profil“, also auf neodarwinistischer Grundlage. Um diesen durchzusetzen empfahl der Philosoph jedoch eine Art „Beautiful Loser“-Haltung – „effektiver Altruismus“ genannt: „Wenn evolutionäre Humanisten den schmalen Grat zwischen Blauäugigkeit und Zynismus meistern wollen, müssen sie sich illusionslos, aber unverzagt, den Fakten stellen – und das heißt, dass sie das alles andere als unwahrscheinliche Scheitern ihrer Bemühungen von vornherein einkalkulieren müssen.“

Das gilt vielleicht auch für die nächste Stiftungs-Aktivität: Sie propagierte das angloamerikanische „Great Ape Project“ in Deutschland . Dies war 1993 aus der Streitschrift „Menschenrechte für die Großen Menschenaffen“ (Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo) hervorgegangen, das u.a. von Peter Singer herausgegeben und u.a. von Jane Goodall, Jared Diamond und Richard Dawkins prominent unterstützt wurde. Sie zogen darin aus Charles Darwins Erzählung, dass Affe und Mensch den selben Vorfahren haben, kulturelle und juristische Konsequenzen. Man fragte sich jedoch, warum die Menschenrechte nur für die höheren Affen gelten sollen – und nicht für Erdmännchen z.B..

Der Herausgeber Peter Singer tritt daneben, wie so viele Naturschützer und Biologen, für eine Drosselung des Bevölkerungszuwachses ein. „Die Menschheit gehört reduziert,“ schrieb bereits der „Serengeti-Retter“ Dr. Bernhard Grzimek unter jeden seiner Briefe. In Singers „praktischer Ethik“ grenzt dies immer wieder an eugenische Ideen in bezug auf behindertes Leben, so wenn er etwa meint, dass ein Neugeborenes nicht schützenswerter sei als ein Embryo. Den Biologen schwebt sowieso gerne ein körperlich und geistig fittes Leben vor. In den angloamerikanischen Ländern gilt Singer als ein Linker, in Deutschland, wo man den Euthanasie-Gedanken, die Vernichtung „unwerten (menschlichen) Lebens“, zur Staatsraison erklärte (dafür jedoch den Abschuß eines Adlers mit der Todesstrafe ahndete), sieht man in ihm einen üblen Rechten.

Beides scheint zuzutreffen. Ähnlich wie schon bei dem amerikanische Genetiker und späteren Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller, der 1935 Josef Stalin einen großen eugenischen Plan vorlegte, den er „Aus dem Dunkel der Nacht“ betitelte: „Viele zukünftige Mütter, befreit vom religiösen Aberglauben, werden stolz sein, ihr Keimplasma mit dem eines Lenin oder Darwin zu mischen, um der Gesellschaft mit einem Kind von ihren biologischen Eigenschaften zu dienen…Echte Eugenik kann nur ein Produkt des Sozialismus sein.“ Gegen diesen makropolitischen Plan protestierten nicht nur die sowjetischen Frauenverbände, auch in den Zeitungen wurde gegen diese Mixtur aus Bevölkerungspolitik und Biologie zur Massenproduktion des „Neuen Menschen“ polemisiert, zumal seit 1933 das nationalsozialistische Deutschland eine Rassenverbesserung qua Biopolitik auf seine Fahnen geschrieben hatte und die Eugenik damit für die Sowjetunion gewissermaßen „verbrannt“ war, wobei das Ziel nicht in Frage gestellt wurde, das man jedoch eher durch Pädagogik, Kollektivierung, Arbeit auf den Großbaustellen des Sozialismus, mit Taylorismus, Arbeitswissenschaft und – bis zum Sturz Trotzkis – mit der Psychoanalyse erreichen wollte. Hermann Muller verließ die Sowjetunion noch vor den „großen Säuberungen“. 1949 wählte man ihn in den USA zum Präsidenten der „American Society of Human Genetics“. Seitdem arbeiten die Genetiker dort an einer Eugenik auf privater Basis.

So etwas Ähnliches schwebt auch Peter Singer vor, wenn er z.B. Schwangerschaftsabbrüche und Sterbehilfe in seinen Schriften thematisiert. 2011 verlieh ihm die Giordano Bruno Stiftung einen „Ethik-Preis“, im selben Jahr bestellte sie den Psychologen Colin Goldner zum Leiter ihrer Kampagne „Grundrechte für Menschenaffen“. In einer Pressekonferenz stellte der Psychologe 2014 eine gründliche Untersuchung aller in Deutschland in Gefangenschaft gehaltenen Menschenaffen vor: „Lebenslänglich hinter Gittern“ betitelt.

In diesem Jahr nun vergab die Stiftung erstmalig einen „Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung“. Die FAZ schrieb: „Weil niemand so würdig sein kann wie der Namensgeber selbst, wird der umstrittene Utilitarist Peter Singer, dessen Empathie für ’nichtmenschliche Tiere‘ eng mit seinem Plädoyer auch für nichtfreiwillige Euthanasie bei bestimmten Menschen verknüpft ist, auch gleich der erste Preisträger sein.“ Behindertenverbände und linke Gruppen sprachen von einem „Skandal“. Die taz war ebenfalls der Meinung: „Euthanasie-Befürworter sind nicht preiswürdig, das finden nicht nur jene, die zu einer Protestkundgebung am 22.5. aufrufen, die sich gegen den Auftritt von Peter Singer in der Urania richtet.“ Die Laudatio sollte der inzwischen zum Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung gewählte Michael Schmidt-Salomon halten, doch mit wachsender Kritik an der Preisverleihung sagte der sie ab, obwohl er Singer doch wohl mitnominiert hatte. In seiner „Erklärung“ bezog er sich auf ein Interview, dass Singer kurz zuvor der „Neuen Zürcher Zeitung“ gegeben hatte: Darin habe dieser Positionen vertreten, die nicht nur im Widerspruch zu einem humanistisch-emanzipatorischen Politikverständnis, sondern auch im Widerspruch zu seinen früheren Standpunkten stünden. In dem Interview betont Singer unter anderem, er halte es für vernünftig, die Präimplantationsdiagnostik zu erlauben. Auch der stellvertretende Vorsitzende des deutschen Ethikrates trat daraufhin als Festredner zurück. Und die Kölner „PhilCologne“ lud ihn als Referenten aus, was nicht nur Singer für ein philosophisches Armutszeugnis hielt.

Zu der Protestdemonstration vor der Berliner Urania kamen etwa 150 Leute, sie forderten Redeverbot für Singer. In der geschlossenen Veranstaltung selbst ging es laut taz vor allem um „Schlachtungszahlen, Bevölkerungszunahme, Klimawandel. In seiner Dankesrede prophezeite Singer eine vegane Welt in spätestens 50 Jahren.“ Das Preisgeld will er Tierschutzorganisationen spenden, nicht zuletzt solchen, die sich um den Schutz der wenigen noch frei lebenden Menschenaffen bemühen.

Um mehr Aufmerksamkeit für sie warb auch die Ausstellung „Kultur der Affen“ im Haus der Kulturen der Welt, vom Veranstalter werden sie als „Grenzfigur zwischen Mensch und Tier“ bezeichnet. Eigentlich geht es dabei jedoch um die Kultur von Affenforschern – und ihrer humanistischen Entwicklungsgeschichte. Im Katalog kommen namhafte Affen-, Gender- und – seltsamerweise – auch Polymerforscher zu Wort. Im Botanischen Garten fand darüberhinaus eine Veranstaltung mit der wohl berühmtesten Affenforscherin, Jane Goodall, statt, die dort aus ihrem Leben erzählte, das sie im Wesentlichen mit Schimpansen verbracht hat. Als junge Sekretärin hatte Louis Leakey sie dazu Anfang der Sechzigerjahr in den „Gombe Stream National Park“ geschickt, zeitgleich mit der Ergotherapeutin Dian Fossey, die in Ruanda mit Gorillas in Kontakt kommen sollte und der hippiesken Studentin Birute Galdikas, die sich auf Borneo den Orang Utans im Reservat von Tanjung Puting widmen sollte. Die Bonobos werden seit 1973 von japanischen Primatologen im kongolesischen Lua-Reservat studiert. Die Japaner hatten schon in den Fünfzigerjahren mit Verhaltensforschung bei Affen angefangen, ihre Kultur mache sowieso keinen so großen Unterschied zwischen Mensch und Tier wie die im Westen, deswegen hätte ihre Forschung neue Erkenntnisse gebracht. Nur nahm man sie im Westen jahrzehntelang nicht zur Kenntnis.

Der Paläoanthropologe Leakey grub in den Sechzigerjahren zusammen mit seiner Frau in der kenianischen „Olduwaischlucht“ nach Knochen des „Urprimaten“, aus dem sich einst Menschenaffen und Menschen entwickelt haben sollten. Er hielt es für wichtig, dass daneben auch die Lebensweise der heutigen Menschenaffen erforscht wird. Da er die westliche Biologie für patriarchalisch verblendet hielt und sowieso Frauen mehr Fähigkeiten zum Erfassen des Sozialen zugestand als Männern, organisierte er auf Jahrzehnte ausgelegte Forschungsgelder für die drei jungen Frauen, die er seine „Trimates“ nannte. Sie wurden, dank Film, Fernsehen und „National Geographic“, weltberühmt – und halfen damit einer „Anderen Affenforschung“ zum Durchbruch, die man inzwischen (mit der dritten Generation) gut und gerne als eine feministische Wissenschaft bezeichnen kann. „Am Grenzübergang von Kultur und Natur sprachen diese Frauen mit den Tieren, was seit dem Sündenfall unmöglich gewesen war … Es ist ein Schauspiel der die Differenz überwindenden Berührung,“ schrieb die Affenforscherforscherin Donna Haraway begeistert.

Dian Fossey wurde 1985 – wahrscheinlich von Wilderern – ermordet, Jane Goodall und Beirute Galdikas arbeiten noch heute auf ihren Forschungsstationen. Statt Intelligenztests an gefangenen Affen anzustellen und mit Bananen dafür zu belohnen, versuchen sie sich lediglich als harmlose Beobachter in die Umwelt der Tiere zu integrieren. „Es ist eine Wissenschaft der Zusammenarbeit und nicht der Beherrschung“, so sagte es Birute Galdikas. Die Forscherinnen haben damit nicht nur „ein revolutionäres neues Bild“ von Affengesellschaften geschaffen, sondern auch die Öffentlichkeit – vor allem Naturliebhaber und -schützer – für die Belange von Affen sensibilisiert.

So wie die Behindertenverbände gegen den Eugeniker und „Great Ape Project“-Leiter Peter Singer protestieren, wenden sich seine Affenschützer vor allem gegen Wissenschaftler, die Experimente mit Affen anstellen. Als 2013 auf der Berlinale eine Dokumentation mit Jane Goodall lief: „Wiedergutmachung unmöglich“ – über den Einzug einer Gruppe von Schimpansen, an denen man 15 Jahre lang Aids-Medikamente getestet hatte, auf einen „Gnadenhof“ mit großem Freigehege, verteilte eine Gruppe von Tierschützern am Kinoausgang Flugblätter, die sich gegen Gehirnexperimente mit Affen (Makaken) an der Bremer Universität richteten. Obwohl diverse Naturschutzverbände die Forschungen des Neurobiologen dort verurteilten, hielt die Unileitung an ihm fest. Es soll sogar „Morddrohungen“ gegen ihn gegeben haben, behauptete der „Spiegel“. 2014 erlaubte ihm das Bundesverwaltungsgericht eine Fortsetzung seiner „Tierquälerei“, wie die „Ärzte gegen Tierversuche“ empört schrieben.

Eher erfolgreich waren dagegen jetzt ihre Proteste gegen einen Tübinger Affenforscher am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, nachdem es einem Aktivisten gelungen war, dort als Affenpfleger angestellt zu werden und dem es laut „Stuttgarter Zeitung“ gelang, „erschütternde“ Filmaufnahmen und Photos zu machen: „Sie zeigen Makaken mit Implantaten am Kopf, eines der Tiere hat einen blutverschmierten Kopf, einem anderen läuft Spucke oder Erbrochenes aus dem Mund.“ Daraufhin durchsuchte die Polizei das Institut, um mit dem Tierschutzgesetz von 2006 unter dem Arm die „Versuchsabläufe“ zu kontrollieren. Die Tierschützer begrüßten das. Und der Institutsleiter verkündete, er werde die Versuche an Primaten, die seit 18 Jahren laufen, einstellen. Der Tübinger Bürgermeister und über 600 Wissenschaftler („aus führenden Universitäten wie Cambridge, Harvard, Oxford und Yale“) kamen ihm schriftlich zu Hilfe. Ein ebenfalls mit Affen Gehirnexperimente durchführender Neurologe vom University College London schrieb, man dürfe den Tierversuchsgegnern nicht nachgeben, dadurch würden solche Experimente nur ins außereuropäische Ausland verlegt, wo man „unsere hohen Standards des Tierwohls nicht erfüllt“. Die Max-Planck-Gesellschaft bedauerte die Kapitulation ihres Forschers ebenfalls: man dürfe sich nicht dem Druck der Straße bzw. von Laien beugen. In ihrer Stellungnahme attestierte sie den Tierschützern eine „teilweise menschenverachtende Aggressivität“ und mußtmaßten, für ihre heimlichen Aufnahmen seien die Affen „manipuliert“ worden. Der Sender „3sat“ nannte ihre „Beleidigungen, Beschimpfungen und Bedrohungen“ eine „Affenschande“. Eine Redaktion von „sternTV“ suchte das Max-Planck-Institut auf, um mit den Wissenschaftlern über die Aufnahmen zu sprechen, aber „sie äußerten sich dazu nicht.“

Stattdessen beauftragte das Institut einen „externen Experten“ mit der Begutachtung der Zustände in seinen wissenschaftlichen Folterkellern: den Direktor des deutschen Primatenzentrums in Göttingen. Der Neurowissenschaftler fand nichts zu beanstanden, „im Gegenteil: Die Tiere werden dort mit großer Sorgfalt und Professionalität behandelt“. Sein Gefälligkeitsgutachten war jedoch wenig professionell – wie „sternTV“ fand: „Der angegebene ‚externe Gutachter‘ Prof. Stefan Treue arbeitet seit Jahren eng mit dem Tübinger Max-Planck-Institut zusammen, da in seinem Institut in Göttingen die toten Affenkörper des Tübinger Max-Planck-Instituts pathologisch untersucht werden.“ Die Tierversuchsgegner waren unterdes auf einer höheren Ebene aktiv geworden: Sie hatten 1,2 Millionen Unterschriften gesammelt, mit denen die geltende Europäische Richtlinie für Experimente an Tieren nun verändert werden soll – dahingehend, dass man alle Tierversuche in Europa verbietet. Ihre Eingabe wurde jedoch abgewiesen.

Die neuen Umgangsformen sind da/Alles muß raus!

Im Zusammenhang des „Dual-Use“-Produkts „Leuchtdioden“ (für verdunkelnd-militärische und erhellend-zivile Zwecke) kamen wir neulich auf einer Veranstaltung auf Osram und Philips zu sprechen, die sich ausschließlich auf diese Produktion von LEDs konzentrieren und alle anderen Leuchtkörper-Produktionen an die Chinesen verkauft haben, bis auf eine, bei der Obama dies den Osrammanagern verboten hat.

Unter den Zuhörern befand sich ein Charlottenburger Künstler, der sich zu Wort meldete: Er habe auch mal bei Osram am Fließband gestanden, neben zwei Frauen, die früher bei Narva gearbeitet hätten und laufend stöhnten: „Nie hört hier der Nachschub auf!“ Auf Nachfrage erklärten sie ihm: Bei Narva passierte das so oft, dass sie sogar einmal dafür kämpfen mußten, dass ihnen bei fehlendem Nachschub oder Band-Havarien nichts vom Lohn abgezogen wird. Darüber hätte damals sogar die Gewerkschaftspresse im Westen berichtet. Auf jeden Fall sei es bei Narva am Band sehr viel gemütlicher zugegangen als jetzt bei Osram.

Ein anderer Zuhörer wollte daraufhin vom Künstler wissen, wie lange er denn bei Osram gearbeitet habe: „Einen halben Tag lang,“ sagte der und fügte hinzu: „Der Meister an der Verpackungsstrecke hat mich schier verrückt gemacht, der stand ständig hinter mir, ein richtiges Arschloch. Das habe ich nicht ausgehalten. Aber seitdem weiß ich, was es heißt, dass alles, was wir kaufen, verpackt ist: jedes Schnitzel, Jede Tomate, jeder Schnürsenkel, jede Socke. Das meiste wird sogar eingeschweißt. Wenn ich nach dem Einkauf das Zeug zu Hause auspacke und das ganze Verpackungsmaterial in eine Plastiktüte stopfe, die, wenn sie voll ist, in eine „Wertstofftonne“ kommt, dann denke ich jedesmal an meine schreckliche halbe Schicht bei Osram, aber auch daran, dass bei vielem, was man so kauft, die Verpackung wertvoller ist als das Produkt.“ Damals sei es im übrigen noch nicht um Leuchtdioden bei Osram in Spandau gegangen, wenn man aber heute dort anrufe, würde einem schon die Frau in der Telefonzentrale voller Ironie mitteilen: „Wir sind jetzt auch ein High-Tech-Betrieb!“

Die Daimler AG hat diesen Quantensprung mit seinem ehemaligen „debis-Haus“ am Potsdamer Platz ebenfalls versucht. Bei ihrem High-Tech-Zeug handelte es sich um die Entwicklung eines individuellen Verkehrsleitsystems. Erst einmal wurden jedoch die Umgangsformen der Beschäftigten ami-hightechmäßig durchdesigned. Einem angehenden Ingenieur aus Indien wurde bei seiner Anstellung z.B. gesagt: Seine Freundin solle er sich abschminken und stattdessen ein besseres Handy zulegen, um auf allen Kanälen erreichbar zu sein. Er hörte nach vier Monaten frustriert dort wieder auf, weil er sich zu sehr ausgebeutet fühlte, hatte aber noch für einen Monat Gehalt zu bekommen. „Schreiben Sie eine Rechnung!“, sagte ihm sein Chef, der Direktor für Mobility Services, Rummel. Das tat er: 1.400 Euro für 80 Stunden. Dann erschien ein Artikel über debis in einer Berliner Zeitung, der ihn zitierte. Wenig später kam das Geld – 700 Euro. Der junge Inder beschwerte sichbei Rummel. Der schrie ihn an: „Mehr Geld kriegen Sie nicht! Ich bestimme hier die Spielregeln!“

Zu den neuen „Spielregeln“ in Berlin gehört auch das Outsourcen. So wurde z.B. von sechs Fünf-Sterne-Hotels der Service von einer ehemaligen Hotel-Mitarbeiterin outgesourct. Sie kürzte den Lohn der Zimmermädchen von 3,58 Euro pro Zimmer auf 2,90 Euro. Die mehrheitlich aus mongolischen Studentinnen bestehenden Mitarbeiter kamen damit auf einen Stundenlohn von 5,80 Euro. Sie schrieben einen Protestbrief, in dem sie eine Belegschaftsversammlung forderten. Fünf von ihnen schmiss die Geschäftsführerin daraufhin als Rädelsführerinnen raus, die Übrigen gaben klein bei und fügten sich.

Ähnlich war es dann im Ostberliner Tierpark – mit dem aus München geholten neuen Direktor Knieriem: 13 Mitarbeiter entließ er, andere schaffteer ab: Löwen, China-Leoparden, Amur-Leoparden, Schwarzer Leopard, Puma, Oman-Falbkatze, Salzkatze, Fischkatze, Braune Hyäne, Vielfraß, Brazza-Meerkatze, Husarenaffe, Faultiere, Wildschweine, Maskenschweine, Schwäbisch-Hällische Schweine, Graue Heidschnucke… Auf einer Mitarbeiterversammlung machte der neue Direktor erst einmal den Gewerkschaftsvertreter lauthals „fertig“ und betonte dann, dass er der Chef sei und sonst keiner. Sodann erließ er ein Redeverbot für alle Mitarbeiter gegenüber Besuchern und Journalisten. Dafür ist nun seine aus München mitgebrachte Pressefrau zuständig, deren Mann offiziell bei der Werbeagentur angestellt ist, die den Zoo und den Tierpark betreut, wo er jeweils ein Büro hat.

Ökologie versus Ökonomie in der Arktis

Der Tierfilmer Andreas Kieling wurde gefragt, warum er so an der arktischen Fauna, vor allem an Eisbären, interessiert sei: „Ganz einfach – ich mußte mir sehr genau überlegen, wo es eine Marktlücke gab,“ antwortete er. Nur „Millionäre und Fernsehteams“ können sich heute eine „Shooting-Permission“, z.B. auf Spitzbergen, leisten.

Jeder erinnert sich noch an die süßen kleinen Robbenbabys auf dem Packeis vor Neufundland, die alljährlich zu tausenden von verrohten „Robbenschlächtern“ mit Keulen betäubt wurden, um ihnen bei lebendigem Leibe ihr flauschiges weißes Fell abzuziehen. Die Photos davon gingen 1977 um die Welt. Dahinter stand eine von Brigitte Bardot beförderte Kampagne gegen die Pelzindustrie. Etliche Staaten beschlossen daraufhin Pelzeinfuhrverbote. Zudem wurde es im Westen generell Konsens: „Pelz ist nicht okay“.

Ähnlich war es bei den Walen, die mit zunehmend ausgeklügelter Geschoß- und Verarbeitungstechnik der Walfangflotten an den Rand der Ausrottung gerieten: Hier kam die Rettung durch eine Langspielplatte mit „Walgesängen“, die der Navy-Ingenieur Frank Watlington auf den Bermudas beim Testen eines neuen Unterwassermikrophons zur Ortung von U-Booten aufgenommen und die von der Musikwissenschaftlerin Katy Pane und ihrem Mann, einem Walforscher, als „Lieder“ erkannt wurden. 1970 verkaufte allein „National Geographic“ 11 Millionen Exemplare davon. Seitdem gibt es nicht nur von den besonders gesangsfreudigen Buckelwalen, sondern auch von anderen Walarten Aufnahmen ihrer „Gesänge“, die als eine Art „Sprache“ gelten. Für die Meeressäuger fielen dabei immer mehr „Walschutzgesetze“ ab. Und Walschützer wie „Greenpeace“ und „Sea Shepherd Global“ jagen inzwischen die letzten Walfangschiffe mit der knappen Ressource Aufmerksamkeit, während immer mehr Walfänger sich zu Guides von „Whale Watchern“ umpositionieren. In den Walschutzzonen sind die großen Meeressäuger inzwischen handzahm geworden, wie der Leiter des Wissenschaftszentrums der Universität Augsburg Jens Soentgen in seinem Buch „Ökologie der Angst“ (2018) berichtet.

Aktuell engagiert sich die „Ökologie“ und „Umwelt-Bewegung“ vor allem beim „Klimaschutz“, dabei ist ihr „Symboltier“ der arktische Eisbär, dem durch die Klimaerwärmung und den dadurch verursachten Rückgang des Packeises seine Nahrungsgrundlage, Robben, entzogen wird. In der kanadischen Hudson-Bay nehmen die Populationen bereits ab, sie kommen bis in die dortige Hafenstadt Churchill, wo es für besonders aufdringliche Eisbären sogar ein Gefängnis gibt. In den sozialen Medien zirkulieren Bilder von halbverhungerten Eisbären. Die Klima-Kampagne des WWF heißt „Rettet die Eisbären“. Der Direktor von Zoo und Tierpark in Berlin ließ den junggestorbenen Eisbären „Knut“ ausstopfen und erklärte ihn zum „Artenschutz-Botschafter“. Zuvor hatte die Dichterin Yoko Tawada bereits Knuts Biographie veröffentlicht und der Fake-Journalist Tom Kummer ein Interview mit ihm.

Eisbären, Walen und Robben ist nicht nur gemeinsam, dass sie in der Arktis leben, lange Zeit von Europäern aus Profitinteresse gejagt wurden und nun einen gewissen Schutz genießen, es gibt dort auch noch die von der Jagd auf sie lebenden Ureinwohner: Inuit vor allem – in Neufundland, Alaska, Nordostsibirien und Grönland.

1951 besuchte der MedizinerJohan Hultin das Dorf Brevig in Alaska, 1997 flog er noch einmal in den Ort, der Wissenschaftsjournalistin Gina Kolata berichtete er: „Das Leben hatte sich dort grundlegend geändert. 1951 hatten sich die Dorfbewohner noch weitgehend selbst versorgt, viele von ihnen hatten noch die alten Walfang- und Jagdtechniken beherrscht. 46 Jahre später gehörte dies alles der Vergangenheit an, die meisten Menschen lebten von der Sozialhilfe, und so war das Dorf, das immer noch einsam über der eisgrauen See lag, mittlerweile ein trauriger, hoffnungsloser Ort. Die Bewohner hatten ihren Stolz verloren.“

Ähnlich war es auf der anderen Seite der Beringstrasse auf den Aleuten und in Nordostsibirien, wo die Berliner Filmemacherin Ulrike Ottinger ihren zwölfstündigen Dokumentarfilm „Chamissos Schatten“ (2016) drehte. Mit der Auflösung der Sowjetunion war dort die riesige Walfangflotte stillgelegt worden, auf denen die Arbeiter einen Blauwal in 30 Minuten zerlegen konnten, gejagt wurde er mit Kanonenharpunen, die beim Eindringen Luft in seinen Körper pumpten, so dass er nicht unterging. Die dortigen Küstenbewohner mußten ab 1992 wohl oder übel wieder auf ihre alten Jagdtechniken zurückgreifen, wollten sie nicht verhungern, und so gingen sie mit Gewehren und Ruderbooten mit Außenbordmotor auf Walfang. Ottinger zeigte eine solche Szene, die damit endete, dass die Jäger den Wal zwar töten, aber nicht bergen konnten: Er versank im Meer.

Die als Leiterin von arktischen Tourismusexpeditionen arbeitende Schriftstellerin Birgit Lutz hat mehrmals Inuit-Siedlungen in Ostgrönland besucht, wo an der 2500 Kilometer langen Küste nur noch 2500 Menschen leben und einige Siedlungen völlig verlassen sind, seitdem die Jagd auf Wale und Eisbären fast verboten wurde und die Robbenfelle kaum noch etwas einbringen. Ihrem Bericht gab die auf Spitzbergen umweltschützerisch engagierte Autorin den provokativen Titel: „Heute gehen wir Wale fangen…“ (2017). Sie interviewte darin u.a. die auf Grönland geborene dänische Reiseorganisatorin Pia Anning Nielsen: „Seitdem die Jagd keine Perspektive mehr für die Menschen hier ist, sind sie nicht mehr stolz. Jetzt können sie sich nicht mehr selbst versorgen, weil der Preis für die Robbenfelle trotz Subventionierung durch die dänische Regierung zusammengebrochen ist.“ Die letzten Jägerschießen zwar weiterhin Robben, 20-30 pro Tag mitunter, aber vor allem zur Versorgung ihrer Schlittenhunde. Ansonsten verfallen immer mehr Inuit dem Alkohol und von den männlichen Jugendlichen verüben immer mehr Selbstmorde: „Für Pia liegt der Hauptgrund dafür in der Erziehung zum Jäger,“ das kein Auskommen mehr bietet. Ein dänischer Polizist erzählte: „An der Westküste gibt es Orte, wo man als Däne besser nicht nachts auf die Straße geht.“ Und dennoch wissen alle Grönländer, die weißen Tierschützer, angefangen mit Brigitte Bardot, haben ihnen zwar ihre Erwerbsgrundlage entzogen, aber der Öko-Tourismus der Weißen ist nun ihre einzige „Chance“.

Birgit Lutz zufolge nahm „das Unheil bereits nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Lauf mit der Modernisierung Grönlands,“ als die Bevölkerung in die Städte umgesiedelt wurde: 1951 lebten noch fast 70 Prozent der Menschen in Dörfern, 2010 nur noch 15 Prozent. Sie verloren dadurch ihre Jagdgründe, ihres Lebensweise und ihre Dorfgemeinschaften. „Jagdnomade zu sein, wurde verboten, man mußte einen festen Wohnsitz haben.“ Aber das Schlimmste war, dass sie mit Robbenfellen nichts mehr verdienen, „deswegen trinken sie,“ wie eine junge Inuit meint. Im Film der kanadischen Indigenen Alethea Arnaquq-Baril „Angry Inuk“ (2016) ist die entscheidende Abstimmung im Europäischen Parlament über das verschärfte Einfuhrverbot von Robbenprodukten zu sehen: Vor dem Saal standen auf der einen Seite die Tierschützer und verteilten kleine, weiße Robbenbaby-Plüschtiere, auf der anderen standen einige Inuit in ihrer Robbenfellkleidung und versuchten darüber aufzuklären, dass sie gar keine weißen Jungtiere jagen, dass die Robbe für sie das ist, was für die Europäer das Schwein ist, und dass es außer Robben, Wale, Eisbären und Fische keine anderen Nahrungsmittel auf Grönland gibt. Die Inuit ernteten für ihre Aufklärung viele angeekelte Blicke von den EU-Parlamentariern.

Für Wale und Eisbären werden heute auf internationaler Ebene für die Subsistenzjagdder Inuit Quoten zugeteilt: 2014 wurden von neun Walarten in Grönland 3297 erlegt. Von den Eisbären wurden im selben Jahr 143 erlegt. Deren Felle werden immer teurer, bis zu 3000 Euro, weil es eine steigende Nachfrage in China gibt. Birgit Lutz findet es unterstützenswert, dass die Inuit weiterhin Robben und Kleinwale jagen, aber da sie sich auf Spitzbergen bei ihrer Sommerarbeit für den Schutz der Eisbären engagiert, fällt es ihr schwer, hier in Ostgrönland nun Sympathie für die letzten Eisbärenjäger aufzubringen.

Odinshühnchen und Thorshühnchen

In Stockholm, wohin ich 1968 vom Militärdienst desertiert war, ging ich einmal in eine Discothek. An den Tischen saßen viele Frauen, an der Theke einige wenige Männer. Ich setzte mich ebenfalls an die Theke. Es wurde getanzt. Irgendwann stand ich auf und forderte eine Frau zum Tanzen auf, sie lehnte ab. Dies wiederholte sich nach einer Weile. Enttäuscht bestellte ich an der Theke erneut etwas zu trinken. Da stand hinter mir eine Frau und forderte mich zum Tanzen auf. So wurde das dort also geregelt. Und so war es dann auch in einem Kellerlokal namens „Cat Club“, den am Wochenende drei Gymnasiastinnen betrieben. Dort wurde ich jedoch nicht zum Tanzen aufgefordert, sondern von einem der Mädchen in ein mich allerdings überforderndes politisches Gespräch verwickelt. In Skandinavien sind die Frauen emanzipierter als anderswo, so mein Eindruck damals.

Bestätigt hat ihn jetzt der dänische Schriftsteller Kim Leine, der einige Zeit als Krankenpfleger in einer Siedlung auf Grönland arbeitete, mit seinem Buch „Die Untreue der Grönländer“ (2012), im Original: „Tunu“, was Ostgrönland heißt: Eine sehr dünn besiedelte Region, die 1931 von Norwegen besetzt wurde, mit der Begründung, dass Dänemark diesen Teil seiner Kolonie zivilisatorisch vernachlässigt habe. 1935 gaben die Norweger jedoch klein bei, seitdem halten sie sich an Spitzbergen. Große Reichtümer kann man auf beiden Inseln nicht erwerben, zumal aufgrund eines internationalen Artenschutzabkommens mit dem Erlegen von Robben, Eisbären und Walen kein Geschäft mehr zu machen ist.

Im selben Jahr, da die Norweger Tunu besetzten, ließ sich der holländische Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen mit seiner Frau im Südosten Grönlands nieder, wo sie bei einem Schamanen wohnten. 1934 veröffentlichte er das Buch „Eskimoland“, in dem er seine Forschungen dort zusammenfaßte. U.a. ging es darin um das Odinshühnchen, das ebenso wie das Thorshühnchen zur Familie der arktischen Schnepfenvögel und zur Gattung der Wassertreter zählt. Bei diesen zwei Vogelarten sind die Weibchen zur Balzzeit bunter sind als die Männchen. Und sie umwerben auch die Männchen, die dann die Jungvögel aufziehen. Nach der Mauser sind beide Geschlechter bei den zwei Arten im „Schlichtkleid“ grauweiß.

Von den Thorshühnchen brüten etwa 50 Paare auf Island, 800 auf Spitzbergen und 300 auf Grönland. Die Odinshühnchen brüteten einst auch in Finnland und Norwegen, inzwischen hat sich ihr Verbreitungsgebiet jedoch, wahrscheinlich klimabedingt, nach Spitzbergen und Nowaja Semlja verschoben. Sie bevorzugen das Landesinnere, während die Thorshühnchen die Küstennähe vorziehen. Deren Winterquartiere befinden sich an den Küsten Südamerikas und Westafrikas, die der Odinshühnchen in Patagonien und im südlichen Japan. Beide sind sogenannte Langzieher. Und Wassertreter heißen sie, weil sie sich im flachen Wasser im Kreis drehen und dabei mit dem Bodenschlick kleine Wassertiere hochwirbeln, die sie „dann zügig aus dem Wasser picken,“ wie es auf „polarkreuzfahrten.de“ heißt. Sie selbst sind Beutetiere von Raubmöven, Schneeeulen und Polarfüchsen. Zum Schutz suchen – wenigstens die Thorshühnchen – die Gesellschaft von Küstenseeschwalben.

Diese reagieren sowohl einzeln als auch in ihren Kolonien sehr aggressiv, wenn jemand ihren Gelegen zu nahe kommt, heißt es. An der Eidermündung sah ich jedoch 2007, dass sie Touristen in Scharen bis auf zwei Meter an sich herankommen lassen. Sie greifen nur Mitarbeiter des schleswig-holsteinischen Nationalparks Wattenmeer an, denn die haben ihre Jungen im Jahr zuvor beringt und das haben sie als feindlichen Angriff in Erinnerung behalten.

Auf „reisebericht-island 2007“ findet sich ein kurzer Film über zwei Thorshühnchen-Weibchen an einem Westfjord, die um ein Revier kämpfen. Die Autoren sprechen von einem „Highlight der diesjährigen Islandfahrt“ Zwar ist der Ort dort „der einzig bekannte auf Island, wo man mit Thorshühnchen rechnen kann,“ wie „birdingstours.de“ berichtet, „doch das ist alles andere als sicher.“ Noch mehr gilt dies für Schleswig-Holstein, wo die ornithologische Arbeitsgemeinschaft aktuell nur drei gesichtete Thorshühnchen als zweifelsfrei anerkannte. Über die Odinshühnchen heißt es dagegen auf „vogelwelt-sachsen-anhalt.de“: „Dem Frühjahrsdurchzug sind 28 Meldungen zuzuordnen; auf den Wegzug zwischen Mitte Juli und Ende Oktober entfallen 155 Nachweise. Zur Nahrungsaufnahme nutzen die etwa strandläufergroßen Vögel dort Vernässungsflächen des Braunkohleabbaus. Die Beobachter konnten sich ihnen auf 2-3 Meter nähern. Nicht zuletzt deswegen findet man im Internet so viele gelungene Fotos von Odinshühnchen. Man sichtet sie eigentlich überall auf der Welt. So fand man sie z.B. auch unter den 32 Schnepfenvögeln Guatemalas, wie „cayaga-birding.de“ meldet. Grundsätzlich gilt jedoch, dass der Bestand der Schnepfenvögel, wie der Watvögel überhaupt und vor allem der Bestand der in der Arktis brütenden Vögel seit 1973 um etwa 70 Prozent geschrumpft ist. Es ist jedoch schwierig, etwas dagegen zu tun, „denn diese Vögel fliegen rund um die Welt und deshalb kommt alles Mögliche als Ursache in Frage,“ meint der Ökologe Paul Smith, der an ihrer Zählung per Hubschrauber über der vereisten Hudson Bay in Kanada beteiligt war.

Die Odins- wie die Thorshühnchen werden im Internet meist im Zusammenhang mit arktischen Touristenreisen erwähnt, ansonsten erfährt man wenig über sie, eigentlich nur flüchtiges Artwissen. Das gilt auch für den Nobelpreisträger Niko Tinbergen und seine Vogelforschung auf Grönland, die sich durch den engen Kontakt zu den Inuit veränderte, wie sein Schüler, der Hyänenforscher Hans Kruuk, in einer Biographie über ihn bemerkt: Die Inuit geheimnissen nichts in die Tiere hinein, sie betrachten sie als (Jagd-) Objekte. Tinbergen wurde dadurch weniger sentimental, eher mechanistisch in seiner Verhaltensforschung. Sein Lehrbuch hieß dann auch auf Englisch „Study of Instinct“. Und Instinkte sind bei allen Tieren einer Population gleich oder es sind keine Instinkte. Dies führt bei ihrer Beobachtung zum Ignorieren aller individuellen Besonderheiten. Tinbergen hat zudem allzu schnell verallgemeinert. Die Bonner Verhaltensforscherin Hanna Maria Zippelius widerlegte ab 1980 die Instinkttheorie von ihm und Konrad Lorenz empirisch – vor allem anhand von Beobachtungen an Silbermöven und Stichlingen, mit denen sich Tinbergen am intensivsten beschäftigt hatte. Über die Stichlinge schrieb er ein Kinderbuch, seine Mövenforschung wurde in die holländischen Schulbücher aufgenommen. Das Verhalten der von Zippelius untersuchten Tierarten wird wesentlich auch von der Umwelt beeinflußt und gelernt. Inzwischen reden eigentlich nur noch am Problem uninteressierte Laien von Instinkten. Und wenn man den männlichen Neodarwinisten glauben darf, dann sind speziell die Odins- und die Thorshühnchen sowieso von allen guten Instinkten verlassen.

Wir haben auch biologische Strumpfhosen, meinte eine Dessousverkäuferin. Kürzlich ging ich am Spätnachmittag in eine Kneipe. An der Bar saßen mehrere Büromenschen, die sich ein After-Work-Bier gönnten. Weil ihnen immer wieder das Gesprächthema ausging und es dann jedesmal still im Lokal wurde, stellte die Tresenbedienung den Fernseher an. Es lief eine Talkshow, bei der es um den Dritten Weltkrieg ging – pro und contra. Die Frau hinterm Tresen schaltete schnell um. Es kam eine Werbung für modische Feinstrumpfhosen. Einer der weiblichen Büromenschen fiel dazu ein, dass im Internetforum „gofeminin“ die Frauen oft und gerne über Strumpfhosen diskutieren, zuletzt über die Frage, wie Frauen es finden, wenn ein Mann Strumpfhosen trägt – und man das sieht, durch die Löcher in seinen Jeans. Das Tresen-Gespräch darüber wurde zwar bald hitzig, aber ich fand das Thema zu belanglos und hörte weg. An dem Tag hatte ich mir ein Buch des US-Autors Tom Robbins gekauft: „Tibetischer Pfirsichstrudel“. Darin las ich am Abend, dass er als Kind gerne bei den Vorstellungen eines Zirkus half, wenn der in seinem Dorf in den Apalachen gastierte, dafür kam er umsonste rein. Robbins war besonders von einer elfjährigen Artistin begeistert. Sie trug schwarze Lacklederstiefel und vollführte Pirouetten auf einem durch die Manege tänzelnden Pferd.

Dann stieß ich da auf das Wort „Strumpfhose“: 1972 besuchte er einen kleinen Zirkus. So klein, dass die drei Artistinnen mehrmals auftraten – jedesmal unter einem anderen Namen: „Sie trugen mehrere Identitäten und Kostüme, doch immer die selben Strumpfhosen. Und so gut wie alle Strumpfhosen hatten Laufmaschen,“ schreibt er und fragte sich: „Kann eine Frau in pinkfarbener Strumpfhose tatsächlich alle Geheimnisse des Universums kennen, wenn diese Strumpfhose Laufmaschen hat? Die Antwort ist eindeutig ‚Ja!‘, allerdings würde ich nicht so weit gehen, es zu einer Voraussetzung zu machen.“

Als Kind bin ich auch oft und gerne in den Zirkus gegangen. Damals trugen viele Kinder, Mädchen wie Jungs, Strickstrumpfhosen. Das sah nicht besonders eindrucksvoll aus, zumal sie oft mit Strumpfhaltern befestigt wurden, aber sie hielten warm. 1935 waren zur großen Freude der Frauen, die sich darum prügelten, die ersten Nylonstrümpfe in die Läden gekommen, ebenfalls mit Strumpfhalter oder Hüftgürtel und Strapse – erfunden vom US-Chemiekonzern DuPont. In Deutschland machten die Nazi-Chemiker dann aus Nylon Perlon und noch später die DDR Dederon (DDR-on).

Die Nylonstrümpfe hielten zunächst sehr lange – zu lange, fand DuPont und verknappte schnell den „Härter“ in der Produktion. Man kann ihn wieder quasi zugeben, wenn man ungetragene Nylonstrümpfe naß macht und über Nacht einmal ins Eisfach legt. Die DuPont-Nylonstrümpfe waren nach den Edison-Glühbirnen das zweite Produkt, dessen Haltbarkeit aus Profitgründen verkürzt wurde. Es schuf weltweit massenhaft neue Arbeitsplätze – für Frauen: als Kunststopferinnen in den Annahmestellen für Nylonstrümpfe, um Laufmaschen zu beseitigen (in der DDR gab es diese Läden noch bis 1991).

In den Fünfzigerjahren kam eine neue „Wirktechnik“ auf, mit der man die Strumpfbeine als „Rundlinge“ produzieren konnte, bis dahin hatten die Nylonstrümpfe hinten eine Naht. Sie und die am Oberschenkel gelegentlich sichtbaren Strapse üben laut Wikipedia „auf manche Menschen eine starke erotische Ausstrahlung aus“. Meine Mutter hat sich in den letzten Kriegs- und ersten Friedensjahren, wenn ihre Nylonstrümpfe zu viele Laufmaschen hatten, deren Naht einfach mit schwarzem Stift auf die nackten Schenkelgemalt. Bald gab es „hauchzarte“ Nylonstrümpfe in allen Farben, Mustern und Preislagen. Anfang der Sechziger gab es daneben noch Strumpfhosen (aus Elastan).Sie reichten vom Bauchnabel bis zu den Knöcheln. Die Mode der Miniröcke machte sie nachgerade zur Pflicht. Mit der Punkmode drehten junge Frauen aber den Konsumspieß um, indem sie Löcher und Laufmaschen in ihre Feinstrumpfhosen rissen.

Tom Robbins meint, die Auftritte der drei Artistinnen – als Clowns, Seiltänzer, Akrobaten und Elefantenführer – in Strumpfhosen mit Laufmaschen hätten leicht allzu ärmlich wirken können, sie waren jedoch „herzergreifend“. Moderne Artistinnen tragen heute Leggings (Beinkleider auf Deutsch), die nicht von einem US-Konzern sondern von US-Indianern erfunden wurden. Sie waren hauteng und aus Wildleder, heute meist aus Erdöl, es gibt sie aber auch aus Seide und Baumwolle. Es sind praktisch Strumpfhosen und sie gehen auch so leicht kaputt. Dafür haben sich die Hersteller dieses vor allem von Frauen getragenenKleidungsstücks enorm vermehrt: Sie beziehen die Kunststoff-Garne von Chemiekonzernen und verarbeiten sie zu „Kollektionen“. Die deutschen Firmen sind auf dem Rückzug, 1970 gab es noch 95 Strumpffabriken. Über die Hälfte der hier verkauften Strumpfhosen stammen heute laut „Die Zeit“ aus Italien. Die jetzt dem US-Textilunternehmen Sara Lee Corp. gehörende Marke „Elbeo“ bewirbt ihre von 321 Beschäftigten in Augsburg hergestellte Kollektion mit der Aufforderung „Keep young & beautiful“.

Des Nachts wird nicht nur geschlafen, gelogen, geraubt, gemordet, gesoffen und getanzt, sondern auch gegrübelt und geforscht. Gerade veröffentlichte der auf dem Land lebende englische Angler Chris Yates ein schönes Buch übers „Nachtwandern“. Uns wird bald noch mehr Nocturnes blühen – bis es ganz zappenduster wird.

In Darmstadt fand bereits eine Konferenz über die Nacht statt. Das Spektrum der Vorträge reichte von „Prometheus“ – der den Menschen einst das Feuer brachte und ihnen damit ermöglichte, sich den Tag in die Nacht hinein zu verlängern – bis zur „Aufklärung“. Wenn man einigen Referenten glauben durfte, dann sind wir mittlerweile schon an dem Punkt angelangt, da ein Tag bruchlos in den anderen übergeht, wo also die Nacht bereits vollständig kolonisiert ist. Vielleicht vollendete also die „Aufklärung“ nur das prometheische Werk, als sie den Menschen zum Objekt der Erkenntnis machte, damit er zum Subjekt seiner eigenen Freiheit und Möglichkeiten werden könne. Und Prometheus wie die Aufklärer – beide waren gewissermaßen Sendboten/Überbringer einer göttlichen Fähigkeit, sich selbst aus der Umnachtung zu befreien – einmal mittels Lagerfeuer/Kerze/Lampe und Halogenleuchten, dann aber auch und ebenso mittels einer stahlenden Vernunft, einer klaren Begrifflichkeit (die von Parmenides bis zu Kant und darüberhinaus apriori vom Himmel fällt) – und uns zur Selbsterkenntnis befähigt. 300 Jahre nach dem aufklärerischen Impuls, oder besser: 2400 Jahre nach den „ersten Philosophen“ und nachdem in den aufgeklärtesten Ländern auch noch die letzten Dörfer sich mittlerweile ihre Nächte illuminiert haben (die meisten mit Peitschenlampen – nach DIN-Vorschrift 5044), darf es nicht verwundern, wenn sich beim Thema „Nacht“ viele Referenten auf die Seite der „Dunkelheit“ schlugen, sozusagen „das Licht wieder ausknipsen“ wollten (wie die Befürworter der Kernenergie es ja schon immer befürchteten!), bzw. an der Erfindung einer „Dunkelbirne“ (Daniel Düsentrieb, 1966) bastelten, bei der es dunkel wird, wenn man sie anknipst. Andere Referenten dagegen waren sich unsicher, ob man überhaupt noch die letzten Reste einer dunklen Archaik gegen die helle Moderne in Schutz nehmen könne, ohne dass daraus gleich ein nicht weniger unangenehmes „Zwielicht“ entstehe. Diese Darmstädter Diskussion über die Nacht fand 1982 statt.

2012 fand im Wiener Belvedere eine Ausstellung über das „Zwielicht“ statt. “Es geht um die Nacht außen und um die Nacht in uns”, erklärte Kuratorin Brigitte Borchhardt-Birbaumer der Presse.

2014 stellten zwei französische Nachtforscherinnen in Detroit ihre vorläufigen Ergebnisse vor. In Detroit hatte zuvor der Loveparade-Organisator und Clubbesitzer Dimitri dem Bürgermeister der Stadt auf seine Frage „Wieso seid ihr in Berlin so erfolgreich?“ geraten: „Schaffen Sie die Polizeistunde ab, dann kommen die jungen Leute auch nach Detroit in Massen“. Die erste Nachtforscherin erzählte, dass sie „Nachtbummler“ interviewt hätte. Diese meinten, sie würden die totale Freiheit genießen, Nachts durch Paris zu streifen. In Wirklichkeit bewegten sie sich jedoch in einem eng umgrenzten Bereich der Stadt. Bis auf eine junge Frau, die durch die Nacht trampte und sich von Männern mitnehmen ließ. Bevor ihr die Fahrten unheimlich wurden, stieg sie jedesmal fluchtartig an einer Ampel aus. Die zweite Nachtforscherin berichtete, dass die Beleuchtung der Dörfer das soziale Gefüge verändert habe: Die Trinker, deren Nachhauseweg Nachts von der Kneipe weiterhin durchs Dunkel führte, galten fortan als seriös, während die Nicht-Trinker, die von der Kneipe aus die beleuchtete Strecke nach Hause nahmen, bald als halbe Säufer abgetan wurden.

2015 organisierten Adam Page und Eva Hertzsch mit einer englischen Künstlergruppe eine Ausstellung auf den Werbeflächen einiger Berliner U-Bahnhöfe: Dazu hatten die Künstler Leute interviewt, die Nachts in der U-Bahn arbeiten, die man aber kaum jemals sieht: Diese „All-Nighter“ hatten sie dann gemalt und dazu einige Sätze aus ihren Erzählungen zitiert.

Wieder zwei Jahre später fand im Berliner Post-Museum für Kommunikation eine Ausstellung über die Nacht statt. Zwar beginnt sie bei den babylonischen Astrologien und den dunklen Gestalten der frühen Neuzeit mit dem dazugehörigen Grusel, aber zu großen Teilen ist sie dem wilden „Nachtleben“ der deutschen Hauptstadt gewidmet: Angefangen mit den mondänen Kabaretts der Zwanzigerjahre über die altmodische Prostituierten-Szene mit ihren Streetworkern bis zu den ganzen Partyclubs, Bands und Drogen, die so viele junge Leute aus der EU nach Berlin locken, dass massenhaft neue Arbeitsplätze entstanden, um sie zu bedienen oder ihnen sonstwie das Geld aus der Tasche zu locken. Hinzu kommen „Spätis“, „Grufftis“, „Graffitis“. Flankierend zur Ausstellung erschien eine Art Katalog: „Das Buch der Nächte“, in dem noch einmal das nächtliche Amüsement thematisiert wird – mit Kapiteln wie „Nachtvögel“, „Lange Nächte“, „Im Dunkeln auf Achse“. Daneben findet sich aber auch ein Text über „Nachts im Bett“ und einer vorm Fernseher: „Durch die Nacht mit Demian“ sowie u.a. Beiträge über die universitären „All-Nighter“.

Diese ganzen wissenschaftlich-künstlerischen Auseinandersetzung mit der „Nacht“, die sich von philosophischen über empirische bis zu lokalhistorischen und ästhetischen Aufbereitungen erstrecken, lassen eins vermissen: Die Mörder und Verbrecher, „das furchtbare Geschlecht der Nacht“ (Schiller). Dieses bleibt nach wie vor illegal und unthematisiert, obwohl es wesentlich zu werden droht. Nur an einer kleinen Wand der Berliner Ausstellung wird es fast schamhaft angedeutet: mit Photos von einigen Leuten, die Nachts am Bildschirm arbeiten, um Bankkonten zu hacken, Erpresserviren loszuschicken, vermeintlich Verantwortliche verbal anzugreifen und sonstwelche kriminellen Distanzdelikte zu begehen, oder auch bloß, um schmerzhafte Liebesgedichte ins Internet zu stellen – zur Musik von Chopins „Nocturne op.9 No.2“ maybe.

Eigentlich habe ich mich auf die Seite der Tiere geschlagen, aber manchmal läßt man das nicht zu und quält mich weiter mit anthropozentrischem Gewese. Gerade lief in Berlin die Art Week, aber eigentlich ist in Berlin ständig Art Day. Der New Yorker Andy Warhol meinte einmal: Good Business is the Finest Art. Als Trump endlich seinen „Tower“ in New York hatte, veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „The Art of the Deal“. „Einer der größten Business-Bestseller aller Zeiten“ sei das, tönte Donald Trump“ laut dem Handelsblatt. Der hiesige Business-Bestseller, das war „nach der Wende“ das Anzeigenblatt „Zweite Hand“, das wegging wie warme Semmel. Der/die Herausgeber baute(n) sich sogleich ein neues Redaktionsgebäude – neben der vietnamesischen Botschaft in Treptow. In ihr Foyer kam ein „echter Warhol“ an die Wand. Mit dem Internet kam jedoch das Ende der Zweiten Hand. Es gibt sie schon gar nicht mehr – am Kiosk. Nur noch „online“, und dort auch quasi nur als Berliner Ableger eines „Global Players“ – der„eBay Kleinanzeigen GmbH Kleinmachnow“ heißt. Der Ebay-Gründer Pierre Omidyar meinte einmal, ursprünglich sei seine Internet-Verkaufsplattform „only for art“ gedacht gewesen.

Ich habe hier immer mal wieder über Internet-Betrügereien geschrieben, bei denen die Nigerianer Weltmeister sind, aber es gibt sie in fast jedem Land, ihre Adressaten befinden sich meist in den reichen Ländern, wo viele dumme und gierige Menschen leben, die besonders alt werden und damit immer leichter zu betrügen sind – dazu gehört auch die BRD, wo „zehn Deutsche natürlich dümmer sind als fünf,“ wie der DDR-Dramatiker Heiner Müller herausfand. Konkret zähle ich auch zu dieser Sorte, weswegen ich regelmäßig mails bekomme, in denen mir Millionen Dollar oder Euro versprochen werden – weil ich in einem amerikanischen Testament bedacht worden bin, in einer spanischen Lotterie gewonnen habe oder mal wieder eine stinkreiche Nigerianerin ein gutes Herz für Berliner hat…Alle wollen sie in Wirklichkeit mein Geld, deswegen gehören auch all jene Hacker zu diesen kreativen Betrügern, die mich wegen irgendwelcher Internetrecherchen erpressen – und zwischen 500 und 5000 Euro verlangen.

Zusammen sind sie eine im Verborgenen blühende Kunstszene, wobei ihre Kunst, The Art of the Deal, darin besteht, sich eine gute Geschichte auszudenken, die wenigstens jeden tausendsten Adressaten überzeugt, so dass er die Betrugsmail beantwortet und sie ihn dann weiter einwickeln – was z.B. bis hin zu einer Reise nach Nigeria geht, wo man von einem Notar erwartet wird, der erst einmal 10.000 Euro Gebühr, Voraussteuer etc. verlangt, bevor einem die Millionen überwiesen werden können. Einige machen das und können noch froh sein, wenn sie zwar nackt aber wieder gesund aus einem Knast entlassen werden und nach Hause kommen. Meine schönst Betrugsmail kam vom Chef der nigerianischen Weltraumbehörde. Er bat mich schlankweg um viel Geld, aber mit einer schönen Begründung: Sein Neffe, der erste nigerianische Astronaut, sei nach 1989 auf eine Weltraumstation geschossen worden und hocke seitdem dort oben. Er möchte nun endlich wieder runter und deswegen sammel man jetzt am Boden Geld, um damit eine russische Billigrakete zu chartern, die ihn abholt.

An sich ist diese Businessart uralt: Nur ging das früher per Post. Da landete dann z.B. ein Umschlag mit einem Mercedesschlüssel im Briefkasten: „Gratuliere Herr Sowieso. Sie haben bei einer Verlosung in Bad Godesberg einen Mercedes gewonnen. Den Schlüssel haben wir Ihnen bereits geschickt, damit der dazugehörige Wagen vor Ihre Tür gestellt werden kann, müssen Sie nur, aus gesetzgeberischen Gründen gegen unlauteren Wettbewerb oder aus irgendeinem anderen Gesetzesgrund, eines unserer famosen Sonderangebote (eine Rheumadecke, ein Wundermittel gegen das Altern oder ein Flacon mit stinkendem Parfüm) bestellen.“ Manchmal schreiben diese Betrüger auch: „Gratuliere, Sie haben soeben 2,6 Millionen Euro gewonnen…usw..Die ukrainische Prostituierte Lilly Brand hat diese ganzen Postwurfsendungen beantwortet und auch diese Billigwaren brav gekauft. In ihrer Wohnung stapelte sich dann der Mist, den sie dann ihrer Mutter in Kiew schickte. Weil diese Betrüger es manchmal zu arg trieben (80 Euro für ein winziges Glücksamulett aus Aluminium z.B.), bezahlte sie nicht immer und bekam es dann mit sowohl verbrecherisch als auch juristisch saugut ausgebildeten Geldeintreibern zu tun. Nun geht diese Kunst, ständig Leute zu betrügen, im Internetzeitalter per Mail weiter. Hier ein besonders schönes Beispiel von heute morgen – ein sogenannter Wanczyk-Trick, die Gewinnerin Mavis Wanczyk gibt es wirklich, aber sie gibt keine Millionen weg, sondern klagt welche ein : „Guten Tag Lieber Begünstigter. Ich bin Frau Mavis Wanczyk, Gewinnerin des Powerball Lottery Jackpots im Wert von $ 758,7 Millionen US-Dollar als größter Preis eines einzelnen Lottoscheins in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Ich schreibe, um Sie darüber zu informieren, dass ich Ihre E-Mail von Google in Verbindung mit Microsoft erhalten habe, um meine Spende in Höhe von 1,8 Mio. € als Teil meines Lotteriejackpotgewinns zu Ehren meines verstorbenen Mannes zu spenden. William Wanczyk, der letztes Jahr bei einem Unfall ums Leben kam

Bitte antworten Sie mir per mail: (maviswanczyk215@gmail.com), damit die Bank Ihnen einen Universum geben kann, eine ATM-Karte im Wert von € 1.800.000,00. Diese Debitkarte wird Ihnen mit dem PIN-Code für den Zugriff auf Ihre Spenden zugestellt. Ich erwarte Ihre Antwort. Deine, Mavis Wanczyk Powerball Jackpot-Gewinnerin.“

Die Mengenlehreuhr auf dem Kudamm, auch „Berlin-Uhr“ genannt, war das Gegenstück zur Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Während sich an dieser die verliebten Ostberliner Pärchen verabredeten, war jene für Jugendliche, die damals Mengenlehre in der Schule lernten, ein Hassobjekt, denn wenn ihre Eltern sie fragten: Wie spät ist es? versagten sie meistens. Es war weltweit die erste Uhr, die die Stunden, Minuten und Sekunden bloß mit farbigen Feldern anzeigte.

Konstruiert hatte sie der Weddinger Elektronik-Erfinder Dieter Binninger 1975, als die „Mengenlehre“ in der Schule gelehrt wurde, die Eltern sich aber bereits für die Abschaffung dieser ihre Kinder angeblich krank machenden „Mathescheiße“ stark machten, die nach dem „Sputnikschock“ eingeführt wurde, um lauter Astronauten hervorzubringen.

Die sieben Meter hohe Mengenlehreuhr wurde in das „Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen und ihr Erfinder ließ sie auch noch seriell als kleine Tisch- und Wanduhr herstellen.

Die große auf dem Kudamm hatte einen Fehler: Wegen der vielen Erschütterungen durch den Verkehr hielten ihre 108 Glühbirnen weniger als die üblichen 1000 Stunden und Dieter Binninger hatte sich gegenüber dem Senat verpflichten müssen, sie selbst zu warten. Das hieß, er mußte, wenn wieder zu viele Jugendliche eine Ohrfeige bekommen hatten, weil sie angeblich zu blöd gewesen waren, die Uhrzeit daran abzulesen, in Wahrheit aber, weil dies ihnen wegen ausgefallener Leuchtfelder unmöglich war, schnell eine Hebebühne mieten und die kaputten Glühbirnen auswechseln.

Schließlich war er es leid und wandte sich an Osram und Philips und fragte, ob sie nicht länger als 1000 Stunden haltende Birnen hätten – für Ampeln z.B.. Die hielten aber auch nicht länger (1200 Stunden). Dem Ingeniör ist nichts zu schwör, sagte sich Binninger und fing an, mit Glühbirnen zu experimentieren: Er veränderte ihre Wendelgeometrie, statt eines Vakuums füllte er sie mit Edelgas und in den Sockel installierte er einen Chip. Am Ende hielten seine Birnen 150.000 Stunden. Die BEWAG testete sie in Ampeln – und befand die „Binninger-Birnen“ schließlich für „tendentiell unsterblich“, denn ihre „Seele“, der Wolframdraht, verdampfte nicht mehr, da der Chip wie ein Dimmer funktionierte. Damit wurde seine Mengenlehreuhr nahezu wartungsfrei.

Aber der Erfinder ließ nicht nach: Er begann in Talkshows und Interviews eine Aufklärungskampagne gegen das Elektrokartell IEA in Pully bei Lausanne, in dem Osram und Philips führend waren, und das die Lebensdauer aller Glühbirnen im Westen aus Profitgründen von 5000 auf 1000 Stunden reduziert hatte. Das Elektrokartell schlug zurück: Als er in Kreuzberg eine kleine Fabrik mit einem Arbeiter, Herrn Weinstein, zur seriellen Herstellung seiner „Langlebensdauerglühlampen“ errichten wollte, weigerten sie sich und ebenso alle von ihnen abhängigen Zuliefererfirmen, ihm Maschinenteile, Glasballons, Chemikalien, Metallsockel und Wendeldraht zu verkaufen. Es gelang ihm jedoch, sich das ganze Zeug in Italien zu besorgen. Daraufhin verboten Osram und Philips ihm sein Warenzeichen „Vilux“, weil es zu nahe an ihren „Bilux“-Birnen war.

Die Konzern-Schikanen gingen immer weiter, unterdes lief aber Binningers Birnenproduktion an und immer mehr Großkunden stellten sich ein. Sein polnischer Arbeiter kam nicht mehr nach. 1991 unterschrieb Binninger zusammen mit der Commerzbank den Kaufvertrag für die Glühbirnenproduktionsstrecke von Narva in Ostberlin. Dort sollten zukünftig seine Langlebensdauerglühbirnen hergestellt werden. Aber eine Woche später stürzte er mit seinem Flugzeug bei Helmstedt ab und starb. „Beim Absturz blieb Kudamm-Uhr stehen,“ titelte die Bild-Zeitung. Gemeint war damit jedoch nur die kleine Mengenlehreuhr auf dem Schreibtisch einer Bild-Leserin.

Die große Mengenlehreuhr auf dem Kudamm wurde von seiner Witwe an die Stadt verkauft, die wollte jedoch ebensowenig wie der Bezirk für den weiteren Betrieb aufkommen, so dass man sie 1995 stilllegte. Durch eine Initiative von Geschäftsleuten wurde sie im Jahr darauf aber umgesetzt – hinter das Europacenter neben dem „Berlin Tourist Center“ und wieder zum Funktionieren gebracht. Ihre durchgebrannten Glühbirnen wechselten fortan zwei Mitarbeiter der Europa-Centerverwaltung mit einer langen Leiter aus. Auch der Verkauf der kleinen Mengenlehreuhrenals Tischstand- und Wandmodell ging wieder los: durch die Rudower Firma Kindermann.

Als der Berliner Regisseur Andrew Hood 1997 seine Dokufiction „Binningers Birne“ drehte, erklärten sich die zwei Mitarbeiter des Europa-Centers bereit, für den Kameramann so zu tun, als würden sie einige Birnen an der Mengenlehreuhr auswechseln. 2007 wurde die Uhr schließlich komplett erneuert. Außerdem wurde sie elektronisiert, d.h. beim Umstellen auf die Sommer- bzw. Winterzeit brauchte man fürderhin bloß noch kurz an einem Relais zu fummeln. Innen im Europa-Center gibt es seit 1982 noch eine 13 Meter hohe Wasseruhr, diese wird mechanisch umgestellt, indem man ein Ventil öffnet. 2011 veröffentlichte ich mit den zwei Kulturwissenschaftlern Peter Berz und Markus Krajewski „Das Glühbirnenbuch“ über diesen ganzen Komplex.

„Noch nie ist ein Mitglied des Tierreiches mit größerer Sehnsucht erwartet worden als dieser Gorilla, und noch nie ist das Schicksal eines Tieres Gegenstand so erregter Kontroversen gewesen,“ schrieb die Vossische Zeitung 1876. Es ging um den jungen Gorilla Pongo, den man im „Aquarium Unter den Linden“ ausstellte, wo er die Besuchermassen mit seinem freundlichen Wesen begeisterte. Gorillas galten bis dahin als scheußliche Ungeheuer. Tote Gorillas wurden in den Museen als zähnefletschende Bestien ausgestopft. 1877 lieh man Pongo an das Aquarium in London aus, wo er ebenfalls „Triumphe feierte“. Wieder zurück in Berlin starb er.

Der folgende Gorilla hieß Bobby. Er kam 1928, als Zweijähriger, in den Berliner Zoo, wo er der Liebling der Besucher wurde. Er starb 1935. Im Naturkundemuseum wurde er mit einer neuen Konservierungstechnik präpariert: dickbäuchig und gemütlich, fast erheitertdas Publikum betrachtend.

Der nächste Gorilla, Digit, wurde in Freiheit, im Regenwald von Ruanda, berühmt, weil er sich 1967 mit einer Gorillaforscherin, der Amerikanerin Dian Fossey, anfreundete – auch später noch als „dominanter Silberrücken“. Einmal nahm er ihr Notizbuch und studierte es, danach drehte er sich um, legte sich hin und schlief ein, was ein großer Vertrauensbeweis war. Die Szene wurde zum Hauptteil einer Sendung der „National Geographic“.

Als Digit 1974 bei der Verteidigung seiner Familie von „Wilderern“ getötet wurde, entwickelte Dian Fossey sich zu einer Menschenhasserin, die nicht vor Gewalt gegen Einheimische zurückschreckte, um ihre Gorillas zu schützen. 1984 wurde sie ermordet, man begrub sie neben Digit. Auf ihrem Grabstein steht: „Niemand hat Gorillas mehr geliebt“. Die Wissenschaftsjournalistin Sy Montgomery nennt sie sowie die Orang-Utan-ForscherinBirute Galdikas und die Schimpansenforscherin Jane Goodall „die drei größten Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts.“

Andere Gorillaforscher führten Fosseys Arbeit in ihrem „Camp Karisoke“ fort. Ruanda verdient viel Geld am Gorillatourismus. Eine Drehgenehmigung kostet 2000 Dollar pro Tag. Es gibt sieben an Menschen gewöhnte Gruppen: Die größte, mit 30 Gorillas, lebt in den Virunga-Bergen, eine kleinere nahe der Nationalparkgrenze. Sie wird von älteren Touristen besucht, die 600 Dollar zahlen, ihre Begleiter führen Tragen für sie mit. 2017 kam die Nachricht, dass drei männliche Gorillas in den Bergen mehrere Fallen fachmännisch zerstört hätten: „Die Fallen waren für sie als Erwachsene zwar nicht gefährlich, jedoch war kurz zuvor ein kleiner Gorilla in solch einem ‚Schnappseil‘ zu Tode gekommen, nachdem er sich beim Versuch, daraus zu entkommen, die Schulter gebrochen hatte.“ 2018 hieß es, dass der Konzern „Total“ im Nationalpark Öl fördern werde.

Der Tierfilmer Andreas Kieling berichtete über seine dortige Begegnung mit einer Gorillamutter und ihrem Kind, dass sie plötzlich ihr Kleines einem anderen Weibchen gab und auf ihn zukam: „Sie packte mich am Handgelenk. Ich drehte meinen Kopf weg, weil ich doch noch Angst hatte, sie könne mich ins Gesicht beißen. Da legte sie ihren langen Arm um meine Schulter und drückte sich fast zärtlich an mich. Nach wenigen Sekunden löste sie sich von mir und ging zu ihrer Gruppe – und ließ mich fassungslos und tief bewegt zurück.“

Im Sommer 2018 starb im San Francisco Zoo die Gorilla-Dame „Koko“ – mit 46 Jahren. Sie mochte gerne Katzen, konnte sich mit 1000 Zeichen in der Gebärdensprache verständigen und verstand noch mehr englische Wörter. Auf die Frage: „Wohin gehen die Tiere, wenn sie sterben?“ antwortete sie – mit drei Zeichen: „Gemütlich – Höhle – Auf Wiedersehen“.

Die 1964 geborene Autistin Dawn Prince-Hughes bekam in den Neunzigerjahren eine Anstellung als Tierpflegerin im Zoo von Seattle, wo sie bei den Gorillas „aus der dunklen Seite des Asperger-Syndroms in seine Schönheit hinaustrat,“ schreibt sie in ihrer Biographie: „Heute singe ich mein Leben“ (2005). Sie erzählt darin, wie sie „als Kind ein unzivilisiertes Wesen ohne Orientierung“ war, aber dann „zu einem wilden Wesen im Umfeld einer Familie von Gorillas“ wurde. Unter „unzivilisiert“ versteht sie z.B., dass sie während einer Unterhaltung „im Kopf Zahlenreihen aufsagte.“ Während ihrer Tierpflegerarbeit fand sie „zum urtümlichsten und ältesten Teil ihres ‚Selbst‘ zurück – in die stillen Nischen des Bewußtseins, wo die Evolution eine Pause eingelegt und ihr Volk mitgebracht hat.“ Dies gelang ihr „zusammen mit den ersten und besten Freunden, die ich je hatte: eine Familie in Gefangenschaft lebender Gorillas, Vertreter eines uralten Geschlechts.“ Weil diese Menschenaffen sanfte, harmlose Wesen sind, konnte Prince-Hughes sie auf eine Weise ansehen und beobachten, „wie ich das bei Menschen nie fertig gebracht hatte. Genau wie Autisten werden Gorillas mißverstanden.“

Den Weg zu ihremVerständnis fand sie zuerst als Zoobesucherin durch das Glas ihres Geheges. Als Tierpflegerin im Versorgungstrakt dann war sie nur noch durch ein Gitter von ihnen getrennt. Als sie dem alten Männchen „Congo“ Erdbeeren füttern sollte und er eine nach der anderen gereicht bekommen wollte, passierte es: „Wir legten unsere Finger gleichzeitig auf den Sims. Wir schauten einander an. Unsere Gesichter berührten sich fast. Ich ließ mich in seine Berührung und seine Nähe sinken.“ So ist es also, dachte sie, „nicht allein zu sein in einem Raum, durch den wir zwischen Kälte und Tod dahinrasen. So ist es, wenn man lebt, dachte ich.“

Inzwischen engagiert sie sich beim Aufbau einer neuen Kultur der Autisten ähnlich wie die Gemeinschaft der Gehörlosen. Die Gorillas gaben ihrem Leben „ein Werden“ und „eine neue Weltsicht“, mit der sie „ein zusammenhängendes Umfeld“ für sich aufbauen konnte.

Auch die bekannteste amerikanische Züchtungsforscherin Temple Grandin ist eine Autistin, der Tiere Pforten der Wahrnehmung öffneten. „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“ heißt ihr letztes Buch.

In Seattle hatte Dawn Prince-Hughes zunächst die „Stammeswurzeln der urbanen Gesellschaft erforscht,“ u.a. indem sie nach einer schrecklichen Zeit der Obdachlosigkeit in einem von Frauen geführten Striptease-Club tanzte – in Tierfelle gehüllt und, obwohl platonisch-lesbisch, bei den mit Extremsex liebäugelnden „Modern Primitives“ mitmachte. Einmal gewann sie den Titel „Miss Seattle Leather Woman“ – was jedoch alles „im Grunde ein Debakel war“. Aber dann machte die Highschoolabbrecherin bei einem „Zootierforschungsprogramm“ eines Colleges mit und spezialisierte sich auf Verhaltensforschung. Als Tierpflegerin trug man ihr dann an, die Gorillas zu beobachten und sich Notizen zu machen. Damit promovierte sie in der Schweiz als Anthropologin, ihre Professoren prüften sie in Las Vegas. Wenn sie beim Studium nicht weiter wußte und weinte, tröstete Congo sie. Als er 1996 mit 37 Jahren starb, verließ sie den Zoo. Heute ist sie Assistenzprofessorin an der Western Washington Universität.

Der Konferenzraum. Wenn wir Wikipedia nicht hätten, wüßten wir nicht: „Ein Konferenzraum ist ein meist speziell ausgestatteter Raum zur Abhaltung von Konferenzen, Tagungen, Symposien, Kongressen, großen Besprechungen und Versammlungen.“ Da die taz einen solchen hat, wissen wir aber auch: Er steht meistens leer. Oft wird er nur zur Morgenkonferenz genutzt. Manchmal kommen „Gäste“ zum Zuhören und setzen sich in die zweite Reihe, vor den großen Topfpflanzen am Fenster. Wenn sie aufstehen, brechen sie oft Bätter oder ganze Zweige ab mit ihren Stühlen. Dann schimpft ihr Betreuer (ich) über diese „Scheiß-Ökos“ in einer Hausmail. Am Ende des Panoramafensters befindet sich eine Eisengittersäule, durch die Kabel nach oben führen. An diese lehnte er eine Yuccapalme, die vier Meter hoch gediehen war und aus dem Topf zu kippen drohte. Dann befestigte jemand von der EDV einen Router an der Säule, damit die Konferenzraumnutzer Internetanschluß haben – mit der Folge, dass der Yucca ringsum alle Blätter abstarben. Sie bekam einen anderen Fensterplatz, an ihre Stelle wurde eine auch sehr große Birkenfeige gestellt. Diese war anscheinend Kummer gewohnt oder jedenfalls sah man ihr auch nach zwei Jahren nichts an, vielleicht waren ihre viel dünneren kleinen Blätter strahlenresistenter als die harten großen der Yucca, die ansonsten fast unverwüstlich ist. Die Birkenfeige wirkt dagegen sensibel, wenn man so sagen darf. Solche Gedanken kommen einem im Konferenzsaal, wenn nicht gerade zwischen 9 Uhr 45 und 10 Uhr 45 die Weltläufte dort durchgehechelt werden. Die Welt wird uns vernichten, könnten die Pflanzen, denen die Konferenzstühle dabei oft zu nahe kommen, auch sagen.

Öko als Deko: Jeder weiß, dass wir und Tiere Sauerstoff (O) einatmen und Kohlenstoffdioxid (CO2) ausatmen, während die Pflanzen umgekehrt CO2 aufnehmen und Sauerstoff abgeben. Sie sind somit die Grundlage unserer Existenz. In Wohnungen und Büros verbessern Topfpflanzen die Luft. Als die taz vor vier Monaten in ihr neues Haus zog – bestehend im Wesentlichen aus Beton, Stahl und Glas – schafften die Mitarbeiter erst einmal viele Pflanzen an. Ein Großteil der Yuccapalmen, Birkenfeigen, Monstera und Aloen, die im Konferenzsaal standen, zog mit in das neue Haus – in einen Mehrzwecksaal für Tischtennis, Yoga etc.. Ich freute mich schon, dass sie dort nicht mehr ständig Stuhllehnen ins Kreuz bekämen, die ihnen Blätter, Zweige und Blüten abrissen. Stattdessen wurden sie nun aber bei größeren Partys umgestellt – und verloren dabei ebenfalls Blätter und Zweige, eine Pflanze ging sogar ein. Der Umzug hatte sie bereits gebeutelt. Hinzu kamen jetzt noch die trockene Neubauluft und ein anderer Lichteinfall. Da sie sich nach der Sonne ausrichten, bedeutet jede Standortveränderung, die für Pflanzen sowieso widernatürlich ist, „Stress“, wie man ein Übermaß an Zumutungen heute nennt.

Ein sibirscher Schamane versicherte einem Ethnologen einmal: Wenn man einen Stein nimmt und woanders hinlegt, braucht er 15 Jahre, um sich zu beruhigen. Bei den Pflanzen dauert das zwar nicht so lange, aber ihr Wachsen – Blühen und Gedeihen – verzögert sich doch auch jedesmal um einige Zeit.

Bei vielen taz-Mitarbeitern habe ich den Eindruck, dass sie die Pflanzen wie Möbel und/oder Lifestyle-Attribute behandeln. Da die taz sich die Ökologie auf ihre Fahne geschrieben hat und von vielen Vegetariern gemacht wird, ist das fast unverzeihlich. Man machte mich auf Kataloge für moderne Wohnungseinrichtungen aufmerksam: Auch dort hat man die Möbel mit Topfpflanzen aufgehübscht, die Tische mit echten Blumen bestückt und die Regale mit Buchrücken. Alles Deko.

Dies setzt sich fort in Banken, Versicherungen und Einkaufscentern, die ebenfalls nicht auf lebende Pflanzen als Dekomaterial verzichten wollen, wahrscheinlich, um sich auch den Anschein zu geben, ein Herz für alles Lebende zu haben. Viele Firmen mieten ihre Repräsentations-Pflanzen von Gärtnereien, gelegentlich sogar die Topfpflanzen für die Büros ihrer Mitarbeiter. Diese dürfen dann das Grün an ihrem Arbeitsplatz jedoch nicht anfassen. Begießen, Düngen, Umtopfen, Beschneiden – für all das ist die Vertragsgärtnerei bzw. ihr Servicepersonal zuständig. Von der freundlichen Serviererin bis zum optimierten Server – für alles hat man heute Diener (auch in der taz).

Als das noch nicht der Fall war, in den Sechzigerjahren, konnte man mit Büropflanzen großartige Erkenntnisse gewinnen: So z.B. der für Spesenabrechnungen zuständige FBI-Mitarbeiter Cleve Backster, der aus Langeweile ein Blatt seines mickrigen Drachenbaums auf dem Schreibtisch an die Elektroden eines Lügendetektors anschloß: Nichts rührte sich, auch nicht, als er das Blatt in Kaffee tauchte, die Pflanze schüttelte usw. Dann kam ihm die Idee, Feuer unter das Blatt zu halten. Schon bei dieser Absicht schlug die Nadel des Detektors heftig aus. Seitdem spricht man vom „Backster-Effekt“ – begeistert oder skeptisch.

Immerhin: Als die taz-Autorin Hilal Sezgin auf dem „taz-lab 2017“ im Haus der Kulturen der Welt ihren Vegetarismus damit begründete, dass Pflanzen ja keine Gefühle hätten, erntete sie Hohn und Spot vom Publikum. Zufällig lief zur selben Zeit in der HKW-Ausstellung „Animismus“ ein sowjetischer Dokumentarfilm, der zeigte, wie von zwei nebeneinander in Töpfen stehenden Rotkohl-Pflanzen einer zerschreddert wurde und der andere laut einem elektronischen Aufzeichnungsgerät vor Angst fast wahnsinnig wurde.

Inzwischen gibt es auch an vielen Universitäten im Westen eine derartige Pflanzenforschung, an der Universität Bonn sogar Pflanzenneurologen: „Für uns gibt es zwischen Tieren und Pflanzen kaum Unterschiede“, so Professor Dieter Volkmann. So dachten nebenbeibemerkt auch meine Eltern. Aber ich wollte von Florianne Koechlin reden, der Schülerin des Basler Biologen Adolf Portmann, die Jahr um Jahr Interviews mit Pflanzenforschern veröffentlicht, Theoretiker und Praktiker. Ihre Sammelbände haben Titel wie „Zellgeflüster“, „Pflanzenpalaver“ und handeln von der „List der Hirse“, von „schwatzhaften Tomaten“, „wehrhaftem Tabak“ und „Was Erbsen hören“. Zusammen mit dem ehemaligen taz-Redakteur Benny Härlin, heute Büroleiter der „Zukunftsstiftung Landwirtschaft“, hat sie die „Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen“ zusammengestellt, die Grundlage dafür sind, dass der Schweizer Ethikrat beschließen möge: Pflanzen sind nicht länger eine „Sache“ – ein seelenloser Gegenstand. Der Wissenssoziologe Bruno Latour ist optimistisch: „Irgendwann wird man es genauso seltsam finden, dass die Tiere und Pflanzen kein Stimmrecht haben – wie nach der Französischen Revolution, dass bis dahin die Menschenrechte nicht auch für Frauen und Schwarze galten.“

Gartenbewirtschaftung. Die taz hatte drei Gärten: zwei oben auf dem Dach und einen unten im taz-Café. Einer der Dachgärten befand sich über zwei angemietete Etagen in einem Bürohaus und war mit einer Bienenflora bepflanzt. Die dazugehörigen drei Bienenstöcke kümmerten leider vor sich hin. Ein Volk starb im Winter, ein anderes wurde von Wespen überfallen. Der für die Bienen zuständige Imker beendete das Experiment im Herbst: Der sehr windige Standort sei für Bienen nicht geeignet – und sowieso zog die taz denn im Herbst 2018 um – in ihr neues Verlagsgebäude.

Die zwei Gärten im alten Verlagsgebäude existierten schon seit Jahrzehnten. Weil sie von Mitarbeitern nebenbei bewirtschaftet wurden, haben sie eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Seitdem ich sie regelmäßig goß blühten, wuchsen und gediehen die Pflanzen dort immerhin üppig. Der Rasen auf dem Dachgarten litt allerdings unter dem Rauchverbot im Gebäude: zu viele Mitarbeiter nutzten ihn täglich für eine oder mehrere Rauchpausen. Und unten um das Café herum litten die in Kübeln wachsenden Pflanzen unter zu vielen asozialen Arschlöchern, die sie einfach ausrupften oder ihre Blüten abbrachen. Seit dem ganzen „To Go“- Scheiß, vor allem vom nahen „Starbucks“, wurden sie auch noch mit Papierservietten und Plastikbechern zugemüllt.

Es gibt Nutzgärten, Ziergärten und Wilde Gärten. Letztere dienen primär dem Sammeln von Lebenswissen. Es geht in ihnen darum, zuzuschauen, wie alles wächst oder eben nicht aus irgendeinem Grund, also das Leben zu studieren – was die Naturwissenschaften leider aufgeben: Sie interessieren sich nur noch für die „Algorithmen des Lebendigen“.

In den ästhetischen (Zier-)Gärten werden die Gewächse vorwiegend nach ihren Farben und Formen, vor allem der Blüten, ausgewählt. Eine solche „Gartenkunst“ gehört der geschichtlichen Herkunft, dem Aufwand und den Investitionen nach zur Hochkultur. Die Natur ist für diese Gartengestalter ein bloßer Materialfundus.

Im Gegensatz zu den Ziergärten entstanden die Nutzgärten aus der Ernährungsnot der Armen, sie institutionalisierten sich als Kleingartenkolonien in den zwei Weltkriegen. In ihren Satzungen ist vielfach noch heute festgelegt, dass auf mindestens einem Drittel der Parzellenflächen Lebensmittel angebaut werden müssen. Von der neuen „Urban Gardening“-Bewegung werden ebenfalls – meist auf Hochbeeten – Nutzpflanzen angebaut. Es geht diesen Vegetariern/Veganern dabei um „gesunde Lebensmittel“.

Bei den Urban Gardening Projekten scheint es ein Problem zu sein, dass viele ihr Interesse daran nicht jahrelang durchhalten können, weil sie einer Arbeitsstelle hinterherziehen, zu oft unterwegs sein müssen oder der Langsamkeit des pflanzlichen Gedeihens sonstwie nicht Rechnung tragen können. Nicht wenige Pflanzen brauchen einige Jahre, bis sie das erste Mal richtig tragen, Obstbäume noch viel länger. Wir leben heute in nachgesellschaftlichen Projektwelten und die Projekte werden, wie die Produktzyklen, immer kürzer – d.h. kurzlebiger, auch die eigenen.

Auf dem Dachgarten des Verlagsgebäudes wurden einige Jahre Marihuana und Erdbeeren angepflanzt. Dann entstand dort jedoch ein wilder Garten, d.h. in diesem Fall, dass es sich bei den Pflanzen zwar um gezüchtete aus der Gärtnerei handelte, aber sie sollten möglichst so wachsen wie sie wollten und sich auch so aussäen. Hinzu kam ein Nistkasten, in dem Meisen brüteten, und ein „Insektenhotel“, in dem verschiedene Kleintiere überwinterten. Bis in den Sommer hinein wurden überdies dort Spatzen, Amseln, Tauben und Krähen gefüttert.

In einem Sachbuch, von Reinhard Witt, wird der „Wildgarten“ als ein „Überlebensraum für unsere Pflanzen und Tiere“ bezeichnet. Der Schriftsteller Helmut Salzinger hatte genau dies im Sinn mit seinem Grundstück: Eine Natur-Arche in einem Meer der Denaturierung. Ringsum befanden sich nur baumlose Weiden, als er anfing, überall Sträucher, Büsche und kleine Bäume irgendwo auszugraben, um sie in seinem Garten wieder anzupflanzen: „Alle geklaut!“ wie er in seinem 1992 veröffentlichten Buch „Der Gärtner im Dschungel“ schreibt. Zunächst ging ihm vieles ein, aber anderes blühte geradezu auf. Und schon bald fanden sich die ersten Singvögel in seinem Garten ein – ihnen folgten wenig später Raub- und Rabenvögel. Helmut Salzinger schreibt, dass er „den Garten als Versuch betreibt, Lebensraum zu schaffen, Raum für Lebewesen jeder Art.“ Und doch greift er immer wieder ein, und jätet z.B. gerne. Sein Garten verändert sich aber auch von sich aus jedes Jahr, wie er meint. Doch um das richtig wahrzunehmen brauchte er Jahre. Meine diesbezügliche Wahrnehmung endet leider 2018 mit dem Umzug in das neue Verlagsgebäude. Dort wird es allerdings zwei neue Dachgärten geben. Hoffentlich mit Pflanzen, die weder in ästhetischer noch in nützlicher Hinsicht verdinglicht werden und mit viel sogenanntem Unkraut dazwischen.

Nachdem die taz sich umgetopft hat – in das neue Haus, das schwer repräsentativ ist, auch hochstaplerisch angesichts des Zeitungssterbens, fanden die Mitarbeiter das Ambiente aus Beton, Stahl und Glas so ungemütlich, dass sie massenhaft Topfpflanzen um ihre Schreibtische in den Großraumbüros anschleppten. Diese Pflanzen sowie die mitumgezogenen Yuccas, Benjaminis und Kakteen brauchten größere Töpfe und neue Blumenerde. Dazu rückten gestern erneut die Gärtner der Firma „Hofgrün“ an. Sie brachten alles Notwendige mit, einschließlich Gartenscheren, um die in alle Richtungen gewucherte taz-Flora auf ein vertretbares Maß zurückzustutzen. Die Mehrheit der Topfpflanzen steht im großen Panoramaraum, in dem auch Randies Bar steht, Tischtennis gespielt und Yoga getrieben wird. Sie wurden neu in zwei Cluster gruppiert. Dabei stellte sich heraus, dass einige von Blattläusen befallen waren, die ließ man erst einmal in Ruhe, aber ein großer Oleander beherbergte ein Ameisennest an seinen Wurzeln. Die ebenso winzigen wie diskreten Ameisen hatten nach dem Umzug zunächst ihren Topf verlassen, um sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen, aber da sie auf diesen Wanderungen der Kaffeeküche im 6.Stock nahe gekommen waren, hatten einige Mitarbeiter Alarm geschlagen. Zwar hatte der mit Ameisen auf dem Land lebende Geschäftsführer sogleich abgewunken („Laßt die in Ruhe, die ziehen sich von selbst zu ihrem Oleander zurück.), aber einige Ökos hatten dann doch blaues Giftpulver ausgestreut. Da ich ein Teil davon wieder entfernen konnte, besteht jedoch noch Hoffnung für das Volk.

Sechs Jahre lang besetzten Baumschützer in Nordrhein-Westfalen einen 200 Hektar kleinen Wald, den Hambacher Forst, der dem Baunkohleabbau weichen sollte. Der an schnellen Profiten interessierte Energiekonzern RWE wollte nicht drei Millionen Jahre warten, bis auch dieser Wald verkohlt ist. Der Widerstand gegen die Vernichtung von Wäldern durch Abholzen besteht fast überall auf der Welt darin, dass man sich an die Bäume kettet oder auf ihnen ein Baumhaus errichtet. Beim Hambacher Forst war diese Form seiner Rettung erst einmal erfolgreich. „Mit Baumhäusern gegen Bagger“ heißt ein Buch der Hambacher Umweltschützer über ihr Leben im Wald und auf den Bäumen.

Auch in Nordindien ketteten sich im und vom Wald lebende Indigene an die Bäume, um sie vor dem Gefälltwerden zu retten. Sie wurden von jungen Frauen aus Deutschland unterstützt, die ihr „ökologisches Jahr“ dort verbrachten. Und einige dieser Frauen wurden wiederum von ihren Müttern unterstützt, die ihren Job in Deutschland kündigten, um sich ihren am Fuße des Himalaja baumschützenden Töchtern anzuschließen.

In Kalifornien gelang es 1890 dem schwedischen Regenwurmforscher Gustaf Eisen die größten Bäume der Welt vor dem Gefälltwerden zu retten, indem er die Gründung des Sequoia National Parks in der kalifornischen Sierra Nevada durchsetzen konnte. Der Schriftsteller Fredrik Sjöberg erwähnt in seinem Buch „Der Rosinenkönnig“ (2011), dass Eisen auch am Fuße des dortigen „Mount Eisen“ begraben wurde – von der Botanikerin Alice Eastwood, mit der Eisen ein Verhältnis hatte, wie Sjöberg vermutet, weil er 1904 einen Regenwurm nach ihr benannte: „Mesenchytraeus eastwoodi“.

Außerhalb des Nationalparks dürfen die bis zu 80 Meter hoch werdenden „Mammutbäume“ jedoch weiterhin von Holzkonzernen verarbeitet werden. 1997 kletterte die Tochter eines amerikanischen Wanderpredigers: Julia Hill, auf einen dieser Bäume, die gefällt werden sollten. Sie lebte 738 Tage, über zwei Jahre, als Säulenheilige in einem Baumhaus in 60 Meter Höhe (zehn Mal höher als der Heilige Simeon) – bis der Konzern „Pacific Lumber“ sein Vorhaben aufgab. In ihrem Baumhaus gelangte sie mit der Zeit zu einem “höheren Selbst”. Seitdem nennt sie sich “Julia Butterfly Hill”. Zur Kommunikation nutzte sie solarbetriebene Mobiltelefone. Speisen wurden mit einem Propanbrenner zubereitet. Eine achtköpfige Gruppe unterstützte sie bei der Besetzung.

Die Schilderung ihres Weges zur individuellen Erleuchtung (Satori) bei der Rettung des Mammutbaums erschien in nahezu allen Kultursprachen, auf Deutsch unter dem Titel “Die Botschaft der Baumfrau”. Die Autorin ist eine Öko-Mystikerin von Rang und mittlerweile einiger Prominenz – und ihr Buch, abgesehen von der gelungenen Rettung des Baumes, ein Erlebnisbericht, der nichts zu wünschen übrig läßt, außer daß ihre baumschützerische Extremerfahrung nicht leicht Nachahmer finden wird. Um dennoch weitere Aktivisten zu finden, gründete die Autorin 1999 die Umweltschutzstiftung „Circle of Life Foundation“.

In den Siebzigerjahren hatte sich bereits in mehreren Ländern die Umweltschutzorganisation „Earth First“ gegründet, die man nicht ganz zu Unrecht des „Öko-Terrorismus“ verdächtigte, erst recht galt das für ihre spätere Abspaltung, der „Earth Liberation Front“ (ELF), die das FBI als „einheimische Terroristengruppe Nummer 1“ bezeichnete.Der amerikanische Biologe Bernd Heinrich, der im Wald von Maine Kolkraben erforscht, gelegentlich zusammen mit seinen Studenten, hatte einmal einen jungen Mann dabei, der ein T-Shirt von „Earth First“ trug. Da im Wald in der Nähe zuvor gerade eine „Earth First“-Sabotageaktion stattgefunden hatte – es wurden Maschinen sabotiert und Nägel in Bäume geschlagen, um diese vor dem Gefälltwerden zu schützen (der Konzern „Timberlands“ wollte 42.000 Festmeter Holz fällen lassen) -, befürchtete Bernd Heinrich, dass man ihn dieser Tat verdächtigen könnte, weil er ebenfalls einige Nägel in Bäume geschlagen hatte, allerdings nur vorübergehend, um über sie an die Rabennester in den Baumkronen heranzukommen, diese Nägel lagen jedoch noch gut sichtbar in seinem Wagen. Außerdem hatte er sich zuvor „schon ziemlich aus dem Fenster gehängt“, als er das Konzept in Frage stellte, „mit dem Herbizidmaßnahmen ‚Forstwirtschaft‘ genannt werden.“ Dabei läßt der Holzkonzern Gifte der „Agent-Orange-Art“ vom Hubschrauber aus versprühen, um nach einem Kahlschlag das Sprießen der Laubbäume zu verhindern und damit das Wachsen seiner Koniferen zu fördern. Bernd Heinrich dämpfte seine aufkommende Angst vor der Verfolgung durch die Justiz, die in der Nachbarschaft nach den Tätern der Baum-Vernagelungsaktion suchen ließ, damit, dass er sich erinnerte, „auch Henry David Thoreau war für kurze Zeit im Gefängnis“, wie er in seinem Buch „Ein Jahr in den Wäldern von Maine“ (1994) schrieb.

Die US-Biologin Margaret D. Lowman nennt man „Canopy Meg“ – Baumkronen-Margarete, weil sie die Bäume und ihre nicht-menschlichen Freßfeinde in den Kronen erforscht, wo ein Großteil der Insekten lebt. Sie hofft, dass ihre „Arbeit als Wissenschaftlerin zum Erhalt der tropischen Regenwälder beitragen wird“, wie sie in ihrem Buch „Die Frau in den Bäumen“ (2000) schreibt. Sie promovierte über „Pflanzenfresser in den Baumkronen des australischen Regenwalds“. Dort heiratete sie auch gleich einen Schafzüchter und bekam zwei Kinder. Weil sie aber nicht nur Mutter und Hausfrau sein, sondern weiter Baumkronen erforschen wollte, trennte sie sich von ihrem Mann und verfolgte ihre akademische Karriere in Amerika als Alleinerziehende weiter.

Bis vor einiger Zeithat man die Pflanzenfresser in den Bäumen nur bis in einige wenige Meter Höhe erforscht, in den tropischen Wäldern spielt sich das Leben aber zumeist in den Baumkronen ab, nach unten dringt kaum ein Sonnenstrahl. Um trotzdem herauszubekommen, was ganz oben los ist, haben die Forscher bisher immer nur mit einer Giftkanone große Mengen Insektizide auf die Bäume gesprüht – und dann unten die toten Tiere aufgesammelt. Auf die Weise erfährt man jedoch nicht, was diese Tiere in den Baumkronen treiben. Dazu müßte man sie lebend beobachten.

Nur, wie kommt man da hoch? Jedes Kapitel in Lowmans Buch beschäftigt sich mit einer „Zugangstechnik zu den Baumkronen“: Anfänglich benutzte sie Seile, um (in Australien an Eukalyptusbäumen) nach oben zu gelangen, aber auch einen Kirschpflücker. Dann arbeitete sie in Afrika mit einer Mischung aus Heißluftballon und Luftschiff – einem sogenannten „Himmelsfloß“. Danach in Massachusetts und in Belize auf Plattformen, die mit einem Laufsteg zwischen den Baumkronen verbunden wurden. Auch mit einem Baukran betrieb sie Wipfelforschung. Als nächstes arbeitet sie vielleicht mit Drohnen. Zunächst richtete sie jedoch erst einmal „überall auf der Welt“ Laufstege zwischen den Kronen einiger Bäume ein, inzwischen besitzt sie eine „weltweite Familie von Kronendach-Enthusiasten“. Und dort, wo sie an einer Universität lehrt, errichtet sie ein „Forschungs-Baumhaus“, um ihre Studenten für die Wunder der Waldwipfel zu begeistern. Zum Sammeln der Insekten benutzt sie ein Schmetterlingsnetz, Insektentrommeln, einen Aspirator und eine Malaise-sowie eine Licht-Falle.

Bei den Pflanzenfressern in den Wipfeln der Bäume handelt es sich vor allem um Käferlarven und Schmetterlingsraupen. Margarete Lowman fragte sich: „Wie finden sie ihre Futterpflanzen? Haben sie „Einfluß auf das ökologische Gleichgewicht des Waldes und ḱönnen sie damit langfristig globale Veränderungen bewirken?“ Um heraus zu bekommen, welche durchschnittliche Lebenserwartung ein Blatt in der Baumkrone hat, markierte sie Tausende von Blätter an fünf verschiedenen Baumarten. „In den Kronen des australischen Nesselbaums stellte ich einen durch Pflanzenfresser verursachten jährlichen Verlust an Blattoberfläche von bis zu 42 Prozent fest.“ Über 50 Prozent Blattverlust durch Insektenfraß stellte sie bei der australischen Scheinbuche fest, der Baum überlebte das zwar, aber sie bekam zwei Jahre lang nicht heraus, um was für ein Insekt es sich handelte, das jedesmal im Frühjahr (September/Oktober) die frischen jungen Blätter vertilgte –des Nachts – und dann verschwand. Es waren die Raupen eines bis dahin unbekannten kupferfarbenen Blattkäfers.

Bei den Kronendachstudien stellte die Aktivistenorganisation „Earthwatch“ ihr zwischen 1980 und 1990 mehr als 150 Unterstützer zur Verfügung. In der Zeit, als sie die Kronen der australischen Eukalyptusbäume erforschte, starben diese Bäume immer wieder in Massen (seit 1878 bereits) an einer unbekannten Krankheit. Die „Grünen“ machten die Umweltzerstörung der Landbesitzer dafür verantwortlich, umgekehrt gingen die Farmer von Pflanzenfressern aus, wobei sie wahlweise an Koalas, Käfer und pilzartige Krankheitserreger dachten. Schließlich wurde ein die Wurzeln angreifender Algenpilz als Hauptursache erkannt, „der mit der an Traktorrädern haftenden Erde von malaysischen Avokadofarmern unwissentlich nach Australien eingeschleppt worden war.“ Der Algenpilz hatte ganze Wälder vernichtet. Aber der Weihnachtskäfer war auch nicht ohne: Margaret Lowman „notierte einen jährlichen Verlust an Blattoberfläche von über 300 Prozent, der auf das Konto des Käfers ging; das bedeutete, dass bei manchen Eukalyptusbäumen innerhalb eines Jahres drei aufeinanderfolgende Laubaustriebe den Insekten zum Opfer fielen.“ Was bei uns das „Waldsterben“ war in Australien das „Baumsterben“.

Als sie auf einer Koralleninsel den Blattfraß von Raupen eines Nachtfalters untersuchte, die sich auf eine bestimmte Strauchart spezialisiert haben, stellte sie abermals fest, „dass – sowohl in Wäldern als auch auf den Koralleninseln – pflanzenfressende Insekten die Schattenblätter von Pflanzen den Sonnenblättern vorziehen.“ Das kann viele Gründe haben, meint sie, oder alle zusammen.

Neben ihrer Arbeit in den Baumkronen erforschte sie auch die Entwicklung der Sämlinge im Regenwald. Für die Verbreitung der Samen sorgen u.a. Vögel, sie erwähnt den Feigenpirol, der die Feigensamen zusammen mit seinem Kot in den Astgabeln verschiedener Baumriesen hinterläßt (ähnlich wie bei uns der aus Sibirien stammende Seidenschwanz hierzulande Mistelsamen verbreitet). Die Feigenbäume keimen hoch oben in den Bäumen, im Licht, und treiben dann ihre Wurzeln nach unten bis auf und in den dunklen Waldboden – sie wachsen also andersherum als die meisten anderen Bäume. Wenn sie in der Erde „Fuß gefaßt“ haben, fangen sie an, den Baum, auf dem sie gekeimt sind, zu würgen. Man nennt sie deswegen auch „Würgefeigen“. „So stirbt der Wirtsbaum einen langsamen Tod, der Jahre dauern kann. Unterdessen ist das Geflecht der Feige so stabil geworden, dass sie auch ohne Stütze durch den Wirtsbaum bestehen kann. Sie übernimmt dessen Platz, ihr ‚Stamm‘ ist deswegen innen hohl,“ heißt es auf „faszination regenwald.de“.

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch der indische Feigenbaum (Ficus benghalensis): Er dient in Indien vielerorts als Dorfmittelpunkt und kann sich zu einem ganzen Hain auswachsen. Der Banyanbaum, wie er dort auch heißt, wächst laut ‚academic.ru‘ „epiphytisch auf einem beliebigen Wirtsbaum, der zunächst keinen Schaden nimmt, da der Banyan kein Schmarotzer ist. Er sendet Luftwurzeln aus, die sich mit der Zeit zu einem dichten Netz entwickeln. Haben die Wurzeln den Boden erreicht, kommt es zu einem Wachstumsschub, da die Pflanze nun nicht mehr ausschließlich auf das Substrat, das sich auf dem Wirtsbaum angesammelt hat, angewiesen ist. Mit zunehmendem Wachstum wird der Wirtsbaum erdrückt und stirbt schließlich ab.“ Die Bezeichnung „Banyan“ geht auf banyas, hinduistische Händler am Persischen Golf, zurück. Diese versammelten sich unter bestimmten Bäumen; der Name wurde von Europäern auf die Bäume übertragen.“

Wenn man vom heiligen Banyanbaum, der bengalischen Feige spricht, muß man auch den Bodhibaum erwähnen, die Pappel-Feige (ficus religiosa), unter der Buddha erleuchtet wurde. In der Tempelarchitektur Sri Lankas wurde es laut Wikipedia üblich, „eigens Bodhi Gara genannte offene Gebäude um einen lebenden Bodhi-Baum zu errichten, der jeweils ein Ableger des wahren Bodhi-Baums in Anuradhapura sein muss. Auch in Tempelanlagen Südostasiens, beispielsweise den Wats in Thailand, ist meist mindestens ein Bodhi-Baum zu finden, der zum Vesakh-Fest während des Vollmondes im April oder Mai im Mittelpunkt von Riten steht.“

Alle Feigenbäume leben in Symbiose mit einem Insekt. Bei solch einem Zusammenwirken gibt es „die verrücktesten Formen gegenseitiger Abhängigkeiten,“ heißt es in einem Text des „Schweizerischen Zentrums für Bienenforschung“, „auf die Spitze getrieben haben es dabei Feige und Feigenwespe.“ Bei der Feigenfrucht handelt es sich genaugenommen um Blütenbehälter, es gibt sie an zwei Baumtypen: die männliche „Bocksfeige“ entwickelt nur ungeniessbare Feigen mit männlichen sowie mit sterilen, kurzgriffligen weiblichen Blüten. Der weibliche Feigenbaum bildet dagegen ausschließlich „Essfeigen“ mit fruchtbaren, langgriffligen weiblichen Blüten. Das Weibchen der Feigenwespe „dringt in den engen Eingang der männlichen Feige ein, oft fallen dabei sogar Flügel und Fühlerteile ab, und legt seine Eier in die kurzgriffligen weiblichen Blüten.“ Durch die Eiablage bilden sich aus den Blüten Gallen. Zuerst schlüpfen die Männchen aus ihnen – und begatten die jungen Weibchen, „die noch geschützt in den Blüten harren.“ Wobei die Männchen die Blütenstände anschließend nicht mehr verlassen. Durch die Löcher, die sie in die Feige bissen, um zu den Weibchen zu kriechen, gelangen jedoch die befruchteten Weibchen mit Pollen beladen ins Freie, um die langgriffligen weiblichen Blütenstände der echten Feigen anzufliegen und zu bestäuben. Zur Eiablage müssen sie dann jedoch wieder eine männliche Brutfeige aufsuchen, damit daraus Nachkommen werden können. „Verirrt sich ein Weibchen in eine weibliche Feige, werden die Blüten zwar großzügig bestäubt, da die Griffel aber zu lang zur Eiablage sind, bleiben Nachkommen aus,“ schreiben die Schweizer Bienenforscher. Für Wikipedia sind dagegen nicht die Griffel der Blüten zu lang, sondern die „Legebohrer der Weibchen zu kurz“ – um den „Fruchtknoten zu erreichen“. Kurz gesagt: Wenn ein befruchtetes Weibchen eine weibliche Feige anfliegt, wird diese befruchtet, aus ihren dort eventuell auch noch abgelegten Eiern wird aber nichts. Wenn sie dagegen eine männliche Feige anfliegt, ist es umgekehrt.

In einem Artikel über den „Kaschmir-Konflikt“, der sich 2002 zu einem Atomkrieg auszuweiten drohte, erwähnte die in Neu-Delhi lebende Autorin Arundhati Roy kurz ihren Mann: „Er schreibt gerade ein Buch über Bäume. Es gibt darin ein Kapitel über die Befruchtung von Feigen, wie jede Feige von ihrer spezialisierten Feigenwespe befruchtet wird. Es gibt fast 1.000 verschiedene Arten von Feigenwespen.“

Zurück zu Canopy Meg: In Massachusetts erforschte ihre Arbeitsgruppe in den Baumkronen auch verschiedene sich dort aufhaltende Mäusearten und zwei Arten von Gleithörnchen. Dazu baute ein Beteiligter mehrere Fallen. Gleithörnchen fressen die Raupen von Schwammspinnern, eine Nachtfalterart, die Arbeitsgruppe entdeckte, dass dort, wo diese Raupen in den Wipfeln der Eichen- und Ahornwäldern gehäuft auftreten, die Gleithörnchen das wichtigste „Gegenmittel“ sind. Einer der Studenten von Margaret Lowman fand heraus, „dass die Zahl der Insektenarten in Laubwäldern der gemäßigtenKlimazonen in Bodennähehöher liegt als im Kronendach, während die Artenvielfalt der Insekten in den Tropen nach oben hin zunimmt. Dies liegt auch an der Qualität der Blätter: die Sonnenblätter in der Krone unterscheiden sich „physikalisch und physiologisch stärker von den Schattenblättern im Untergeschoß desselben Baumes als von den Sonnenblättern einer völlig anderen Baumart.“ Die Blätter oben sind härter, haben eine höhere Photosyntheseaktivität und eine kürzere Lebensdauer.

In Panama erforschte Margaret Lowman, ob „Lianen aufgrund ihrer Funktion als Transportwege für wirbellose Tiere zu größerern Pflanzenschäden und einer größeren Fülle von Insekten in Baumkronen beitragen“. Sie fand heraus, dass dies tatsächlich der Fall ist. Zu den Pflanzenschädlingen dort oben gehören natürlich neben den Insekten auch Säugetiere (wie z.B. Affen) und viele Vögel, nur kann mit den von Margaret Lowman benutzten Zugangstechniken dabei wenig ausrichten, weil die Tiere davor sofort flüchten bzw. wegfliegen. Einiges haben ihre Ornithologiekollegen aber doch herausbekommen: So teilen in Panama die Stirnvögel (Oropendolas auch genannt) ihre Nistplätze gerne mit Hornissen, zudem dürfen Kuhstärlinge ihre Eier in die Stirnvogelnester legen, weil die Hornissen ebenso wie die jungen Kuhstärlinge Dasselfliegen töten. Zur Erforschung der Baumkronen sind laut Margaret Lowman die Baukräne am Besten, es gibt sie inzwischen in sieben Wäldern weltweit, u.a. um vergleichbare Daten für die Forstwirtschaft zu sammeln. 1997 fand das erste Treffen des „Internationalen Baumwipfel-Kran-Netzwerkes“ statt. Und weil es auch immer mehr Baumwipfelforscher gibt, können mit den Kronendachkränen „Forschungen über Photosynthese und Gasaustausch, oder hinsichtlich der Konturen von Kronendachoberflächen und ihre Auswirkungen auf das Mikroklima mit größter Präzision durchgeführt werden.“ In Belize arbeitete die Biologin in einem Baumhaus, dazu auf fünf Plattformen, die mit Laufstegen in unterschiedlicher Höhe (von 22 bis 40 Meter) verbunden waren. In der Krone eines Baumes entdeckte sie mehrere „Ameisengärten“: „Dabei handelt es sich um eine Anhäufung von Kronendachpflanzen, deren Samen von den Ameisen sorgfältig geerntet und in luftige Höhe geschleppt wurden.“ Die Ameisen erhalten von ihren „Gärten“ Wohnung und Nahrung, dafür schützen sie ihre Pflanzen vor Schädlingen. In den Tropen haben die meisten Bäume immergrüne Blätter, Margaret Lowman fand Bäume, die 13 Jahre lang ihre Blätter behalten. Es gibt aber auch einige, die ihr Laub regelmäßig wechseln und andere, die in Trockenperioden einen Teil ihrer Blätter abwerfen.

Im Mai 1995 begann sie in Panama mit einer neuen Technik: Sie beobachtete die Baumkronen mit einem Fernglas vom Boden aus – es ging ihr dabei nicht um Insekten, sondern um Epiphyten (Aufsitzerpflanzen) und Lianen. U.a. stieß sie dort auf einen sogenannten „Selbstmordbaum“, der nur einmal Blüten und Früchte hervorbringt und dann stirbt. Ähnlich wie der Bambus blühen auch die Selbstmordbäume gerne alle auf einmal – und sterben dann kollektiv.

Bäume brauchen Schlaf, nächtliche Beleuchtung macht sie krank, weil die Chloroplasten in ihren Zellen dann weiter „arbeiten“. Sie legen sich zwar nicht hin zum Schlafen, wie die westafrikanischen Bäume in Jean Rouchs Film „Moi fatigué debout, moi couché“ (1997), aber die großen unter ihnen werden bis zu zehn Zentimer kleiner Nachts, behauptet jedenfalls der Förster Peter Wohlleben in seinen Büchern über den „Wald“ und „Das geheime Leben der Bäume“. Von den Nachtschattengewächsen, namentlich den Tomaten,wird das Gegenteil gesagt: Der Schriftsteller Landolf Scherzer stieß 2006 auf seiner Wanderung entlang der ehemaligen „Zonengrenze“ in Thüringen auf einen Kleingärtner, dessen Garten fast bis zur Grenzbefestigung ging. Er lobte dessen Tomatenpflanzen. Das sei gar nichts, erwiderte der Gärtner, zu DDR-Zeiten, als vor seinem Grundstück noch starke Lampen standen, die nachts den Grenzstreifen beleuchteten, um Republikflüchtlinge abzuhalten, wären seine Tomaten noch viel größer geworden.

Die F.R. überschrieb am 9.10.2014 einen Artikel mit „Mission Impossible“. Es ging darin über Nikita Dhawan, Professorin für Politikwissenschaft, sie verlässt die Frankfurter Goethe-Universität, die ihr keine Festanstellung geben wollte. Die Inderin erforscht, wie sich europäische Normen und Vorstellungen durch den Kolonialismus global durchgesetzt haben. Sie fordert, die deutschen Hochschulen zu dekolonisieren. Vom Kolonialismus geprägte Denkmuster seien bis heute vorherrschend, wenn sich die Forschung mit den Ländern des globalen Südens beschäftigt, sagt Nikita Dhawan.

Mit der englischen Kolonisierung Indiens und Burmas beschäftigte sich George Orwell in seinem 1935 veröffentlichten Roman „Tage in Burma“. Vorangestellt ist ein Motto von Shakespeare: „…In dieser unzugangbarn Wildnis/Unter dem Schatten melanchol’scher Wipfel…“ Orwell war fünf Jahre als Kolonialbeamter in Burma tätig gewesen und lernte dort die brutalen rassistischen Kolonialmethoden hassen. Sein Roman spielt in einem Dorf namens Kyauktada in Oberburma nicht weit von Mandalay. Getrennt von den Engländern lebten die Eingeborenen in einem Teil des Ortes, der „größtenteils zwischen grünen Hainen von heiligen Bobäumen versteckt war. Bei dem Bobaum handelt es sich um die Pappel-Feige (Ficus religiosa). Die Burmesen sind mehrheitlich Buddhisten. Die Fischer werden verdammt, weil sie Fische fangen und töten, nicht aber die, die sie essen, denn die Fische sind ja schon tot.

Der Club der Engländer war von allerhand Blumen umgeben: u.a. von „riesigen Petunien, groß wie Bäume. Einen Rasen gar es nicht, aber ein Gebüsch von einheimischen Bäumen und Sträuchern – goldgelbe Mohurbäume wie große Sonnenschirme mit blutroten Blüten, gallig grüne Krotons, gefiederte Tamarindenwedel.“ Der „Kroton (Codiaeum variegatum), auch Croton, Wunderstrauch oder Krebsblume genannt, ist eine Pflanzenart, die zur Gattung Codiaeum innerhalb der Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) gehört. Viele Sorten sind Zierpflanzen in tropischen Parks und Gärten.“ (Wikipedia) In Jiddu Krishnamurtis „Ein Leben in Freiheit“ heißt es an einer Stelle: „In dieser kargen Gegend, im Chittoor-Distrikt von Andhra Pradesh, in der es nur selten regnet, leben nicht viele Menschen. Tamarinden und Mohurbäume spenden Schatten und bieten ein farbenprächtiges Bild. Es war heilige Erde, punyasthal, wo jahrhundertelang Mystiker und Heilige gelebt und gelehrt hatten, deren Körper dort beerdigt wurden, um die Erde zu weihen.“

Über den englischen Club in Kyauktada schreibt Orwell: „Die Räume hatten mit Eakholz getäfelte Wände, die nach Erdöl rochen…“ Der „Teakbaum (Tectona grandis) ist eine Pflanzenart aus der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Heimisch ist er in den laubwerfenden Monsunwäldern Süd- und Südostasiens. Der Teakbaum liefert ein sehr wertvolles Holz und zählt zu den wichtigsten Exporthölzern des asiatischen Raumes. Die deutsche Bezeichnung Teak leitet sich über das Englische von Malayalam ab.“ (Wikipedia)

Zwar sind die Clubmitglieder, es gibt nur eine Handvoll, nicht mit Erdöl, sondern im nahen Urwald mit dem Fällen und dem Abtransport von Teakholzbäumen beschäftigt, aber das Erdöl, das mit Brunnen aus der Erde geholt wird, spielt seit über 1000 Jahren eine wichtige Rolle in Burma. Es ist Ausdruck kolonialen Denkens, wenn gesagt wird, dass erst die Amis im 19.Jahrhundert anfingen, Erdöl zu fördern. Siehe dazu: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/09/25/bewegungsmeldungen-aus-burma/. Daneben spielt seit jeher auch das Teakholz eine wichtige Rolle: In Nordburma werden die Teakbäume noch heute massenhaft gefällt, mit Elefanten an die nächste Straße gezogen und dann mit LKWs nach China exportiert. Das selbe gilt für das Teakholz aus Indonesien, das ebenfalls heimlich über Burma nach China verkauft wird.

Die Hauptfigur des Burmaromans von Orwel, Mr. Flory, „ging im Schatten der heiligen Bobäume [Die Pappel-Feige – Ficus religiosa, auch Buddhabaum, Bodhibaum, Bobaum oder Pepul-, Pepal-, Pipul- oder Peepalbaum genannt] die Basarstraße hinunter.“

Er stritt sich gerne mit dem indischen Arzt im Ort, mit dem er befreundet war. Ihm sagte er: „Glauben Sie, dass meine Firma z.B. ihre Holzverträge bekommen könnte, wenn ds Land nicht in der Hand der Briten wäre? Oder die anderen Holzfirmen oder die Ölgesellschaften oder die Grubenbesitzer und Pflanzer und Händler?“ Der Arzt erwiderte: „Aber was würde aus den burmesischen Wäldern werden, wenn die Engländer nicht hier wären? Sie würden unverzüglich an die Japaner verkauft werden, und die würden sie ausrauben und zerstören. Statt dessen werden sie in ihren Händen tatsächlich verbessert.“ Flor will natürlich nicht leugnen, „dass wir dieses Land in gewisser Hinsicht modernisiert haben.“ Aber er sieht es bereits kommen, dass irgendwann alles verschwunden sein wird: „Wälder, Dörfer, Klöster, Pagoden. Überall auf den Hügeln eine Villa neben dem anderen. „Und alle Wälder abrasiert – zu Pulpe zermahlen für die ‚News of the World‘ oder zu Grammophongehäusen zersägt. Aber die Bäume rächen sich, wie der alte Mann in der ‚Wildente‘ von Ibsen sagt.“

Flory ging in den Dschungel. „Zuerst war es niedriger Busch mit dichtem, verkümmertem Gestrüpp, und die einzigen Bäume waren halbwilde Mangobäume, die pflaumengroße, terpentinhaltige Früchte trugen.“ Der Weg endete an einem Fluß. Um Ufer „stand ein riesiger, abgestorbener Pyinkado-Baum mit Girlanden von spinnenartigen Orchideen…“ Am englischen Friedhof standen gleich mehrere große „Pyinkado-Bäume“. Der Pyinkadobaum, auch Eisenbaum genannt, „kommt aus Südostasien und ist ein hoher Baum mit borkiger Rinde. Diese Feroniella kann sehr alt werden, hat gelbliche Blüten und bildet essbare, apfelgrosse Früchte aus. Sie hat glänzende, grüne, gefiederte Blätter, aus deren Blattachsel je ein Dorn wächst.“

Mr. Flory gelangte schließlich ins Nachbardorf, es hieß „Nyaunglebin – die vier heiligen Bobäume.“ Während der Zeit der „Holzgewinnung“ lebte Mr. Flory im Dschungel im Holzfällercamp. Dort gab es neben Arbeitselefanten eine kleine Eisenbahn, „mit der die Teakstämme zum Fluß geschafft wurden.“ Aber die Bahn war kaputt, ein Elefant krank und die Kulis waren desertiert, „weil ihre Opiumration herabgesetzt worden war.“

Am Straßenrand unweit des Gefängnisses von Kyauktada „lagen die Bruchstücke einer steinernen Pagode, die durch die starken Wurzeln eines Bobaumes Risse bekommen hatte und eingestürzt war.“ Außerhalb des Ortes an einem Teich wuchs ein anderer „Heiliger Bobaum, ein zwei Meter dicker abgestützter Stamm…Die Luftwurzeln dieses Baumes bildeten eine natürliche Höhle, in der klares, grünliches Wasser gurgelte. Oben und ringsum wehrte das dichte Laubwerk dem Licht und machte den Ort zu einer von Laub eingeschlossenen grünen Grotte.“ Auf der Jagd kommt Mr. Flory zusammen mit einer jungen Engländerin an einem „weißdornartigen kleinen Baum“ vorbei, vor dem ihre Treiber knien. „Was machen diese Männer?“ fragt die junge Frau. „Nur ein Opfer für die Götter des Ortes…Sie beten zu dem Baum, damit er uns Glück bringt,“ antwortete Mr. Flory. Später spazieren die beiden am Tennisplatz neben dem englischen Club vorbei, wo ein „großer Jasminbaum“ steht. „Der Jasminbaum (auch Indischer Korkbaum, Millingtonia hortensis) ist die einzige Art der Gattung Millingtonia in der Familie der Trompetenbaumgewächse (Bignoniaceae). Der Gattungsname ehrt den britischen Botaniker Thomas Millington. Der Jasminbaum wird 8 bis 25 Meter hoch.“ (Wikipedia)

Mr. Flory sah sich bereits mit der jungen Engländerin, die er auf die Jagd mitgenommen hatte, verheiratet. „Er sah seinen Salon, nicht länger schlampig und junggesellenhaft, mit neuen Möbeln aus Rangun und einer Schüssel von rosaroten Bobaumzweigen wie Rosenknospen auf dem Tisch.“ Aber im letzten Moment kam es anders…

– Im Theodor-Wolff-Park in Friedrichshain/Kreuzberg stieß der Technischer Leiter des Grünflächenamtes auf einen Baum, dessen Stamm von Unbekannten wahrscheinlich mit einer Axt oder einer Machete auf das übelste traktiert wurde. Wahrscheinlich mit dem Ziel, die etwa 20 Jahre alte Linde zu fällen. Es sei schon schlimm genug, dass Wände beschmiert oder Bänke herausgerissen werden, meint Adalbert Klees. „Aber sich an einem ausgewachsenen Baum, einem Lebewesen, auf diese Art zu vergreifen, ist der Gipfel dessen, was ich bisher gesehen habe. Hier sind durchgeknallte Zeitbomben unterwegs.“​

​- Erneut sind Bäume im Landkreis Göttingen Ziel einer Giftattacke geworden. Nachdem es zuletzt in Gleichen und Rosdorf zu derartigen Anschlägen gekommen war, hat es jetzt drei Erlen in Geismar erwischt. Wieder bohrten Unbekannte die Stämme an und injizierten eine Substanz, an der die Bäume zugrunde gingen.​

​- Mit Benzin im Stamm versucht jemand, diesen stattlichen Baum zum Absterben zu bringen. Das Bohrloch im Stamm ist deutlich sichtbar. Fotos (2): Frey zurück vergrößern weiter Bad Salzungen – Wer macht so etwas? Und vor allem: Warum? Mindestens zwei stattliche Bäume wurden am Haad angebohrt und in die Löcher Benzin gekippt. Bernhard Frey, Nabu-Mitglied und Mitglied im Naturschutzbeirat, ist diesem Hinweis nachgegangen. „Die Bäume, eine Linde und eine alte Eiche, sind kerngesund“, berichtet er. Im unteren Teil der Stämme befinden sich tatsächlich Bohrlöcher. Es riecht nach Benzin, auch der Stamm ist von der Flüssigkeit verfärbt. Bernhard Frey hat das Umweltamt informiert. Und die Presse. „So etwas muss an die Öffentlichkeit gebracht werden“, meint er. Es empört ihn, dass jemand den gesunden Bäumen, die keine Gefährdung darstellen, so etwas antut.

– München: Nach der illegalen Fällung von einigen Bäumen beschädigten bislang Unbekannte weitere Bäume. Diese wurden jedoch nicht gefällt, sondern die Rinde durchschnitten, so dass die Versorgung der Bäume nicht mehr gewährleistet ist. Die Baumstämme hatten einen Umfang von gut einem Meter. Es wurde Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Gegen die illegalen Baumfällungen hatte der Bezirksausschuss (BA) 19 Anzeige erstattet. Der Bauunternehmer, der die Bäume gefällt hatte, bekam nun einen rechtsgültigen Bußgeldbescheid.

– Baden-Baden, Lichtental – Schwer geschädigt wurde laut Stadt-Pressestelle in den vergangenen Tagen ein Baum in der Lichtentaler Allee. Der Stamm des Spitzahorns, der erst vor zwei Jahren als Spenderbaum mit persönlicher Widmung am südlichen Ende der Klosterwiese gepflanzt worden war, wurde von Unbekannten so eingesägt, dass der Baum keine Überlebenschance hat. Das Gartenamt erstattete Anzeige und pflanzt in Kürze einen Ersatzbaum am selben Standort.

– Unbekannte haben einen Ahornbaum in Eich angesägt und dabei so schwer beschädigt, dass er gefällt werden musste. Am Morgen des 07. Juli wurde an dem Ahorn, der an der Verbandsgemeinde Eich stand, festgestellt, dass der Stamm rundherum fast bis zur Stammmitte angesägt worden war. Es blieb nichts anderes übrig, als die Feuerwehr zu verständigen, die den Baum fällte. Zeuge hat Baumfrevel vielleicht beobachtet. Ein Zeuge hatte einen Tag zuvor zwei Personen an dem Baum gesehen. Als er sie fragte, was sie dort machen, rannten sie weg. Der entstandene Schaden wird auf 1.000 Euro geschätzt. Derartige Taten sind unverständlich. Da wurde doch ein Baum am Kirchplatz mit einem Beil bearbeitet. In Brusthöhe hat ein unbekannter Täter den Baum ca. 4 cm tief – wohl mit mehreren Axthieben – traktiert. Ein Abschrammen mit einem PKW oder KW scheidet aus. Ein großer Stein verhindert nämlich das Befahren des Seitenstreifens, in dem der Baum steht. Ob sich der Baum nach entsprechender Behandlung wieder erholen wird, muss abgewartet werden. Geschädigt wurde die Gemeinde Windhausen. Sie wird sicherlich Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Nach einer Phase relativer Ruhe hat ein Mitglied der Baumschutzinitiative Westhoven die Stadt Köln über einen neuen Fall von Baumfrevel am Porzer Leinpfad informiert. Ein oder mehrere Unbekannte sägten dort vier neu gepflanzte Pappeln ab. Der Schaden beläuft sich auf rund 5.000 Euro. Im März vergangenen Jahres war eine Serie von über 20 Baumfreveln plötzlich abgerissen. Vorher hatte die Stadt Köln jeden Fall bekannt gemacht, die örtliche Polizei eingeschaltet und eine Belohnung von 1.000 Euro ausgesetzt. Aus gegebenem Anlass weist das Amt für Landschaftspflege und Grünflächen darauf hin, dass die Böschung zwischen dem Leinpfad und den höher gelegenen Häusern städtisches Gelände ist und Rodungen der Büsche dort verboten sind. Das Tiefbau- und Landschaftsplanungsamt Treptow-Köpenick hat am 18.10.2013 festgestellt, dass im Grünzug zwischen Ottomar-Geschke-Straße und Spindlersfelder Straße sechs Bäume mutwillig durch bisher unbekannte Täter mit der Axt gefällt bzw. abgeschlagen wurden. Es wurde Anzeige bei der Polizei erstattet, der finanzielle Schaden beträgt ca. 10.000,00 Euro.

– Das bringt ja das Faß zum Überlaufen – nachdem in der Stadt Salzburg (und auch im Bundesland Salzburg) von der Politikerriege kollektive Arbeitsverweigerung betrieben wird wenn es um die Verkehrspolitik geht (die Stadtbahn ist beschlossen und harrt nach wie vor seit 2 Jahrzehnten auf die Errichtung), nachdem also Stillstand herrscht, der nur von zeitweiligen autofreundlichen und daher menschenfeindlichen Nonsense-Aktionen wie der neuen Verkehrsregelung in der Griesgasse unterbrochen wird, wurden nun in einer Gegend, wo es nur mehr staut, stinkt und lärmt auch noch Bäume gefällt. Wie zu hören ist, ist dafür wieder einmal der pseudogrüne Stadtrat Padutsch von der „Bürgerliste“ verantwortlich, der ja offenbar schon u.a. für die Vernichtung der herrlich blühenden japanischen Kirschbäume vor dem Landeskrankenhaus verantwortlich zeichnet – bei Strassenumgestaltungsarbeiten vor einigen Jahren verschwanden diese herrlichen Bäume plötzlich, nichts blüht dort mehr im Frühling, die Politiker haben eine Asphaltwüste hinterlassen. Ähnlich wie am Hanuschplatz, wo die herrlichen Magnolien verschwanden.

In Berlin hat sich die Regierung ein grünes Programm gegeben, sie will also für mehr Grün sorgen. Tatsächlich wird das Grün jedoch immer weniger: Reihenweise werden Bäume gefällt und hunderte, tausende von Büsche niedergemacht, Brachflächen werden gerodet und anschließend versiegelt und die Gartenbauämter, die nur noch ein paar Sesselpupser beschäftigen (keine Gärtner mehr) lassen alles, was zu tun ist, von Firmen erledigen. Die dazu notwendigen Ausschreibungen sind jedoch so gestaltet, dass nur Firmen mit Schwarzarbeitern sie erledigen können, wenn sie keine Verluste machen wollen. Und diese Arbeiter gehen ungefähr so sensibel mit dem Grün um wie kanadische Akkord-Baumfäller.

„Spielzeug wird im Himmel gemacht, aber die Batterien in der Hölle.“ (Tom Robbins)

„Zoo Moskau“ heißt eine Ausstellung im „me Collectors Room“ in Berlin Mitte. Die Kuratoren Sebastian Köpcke und Volker Weinhold zeigen dort zusammen mit der Restauratorin und Pädagogin am Museum der Kindheit in Leningrad, Daria Soboleva 400 sowjetische Spielzeugtiere aus Zelluloid und Polyethylen, die zwischen 1950 und 1980 hergestellt wurden – von Absolventen der Leningrader Kunsthochschule: „Sie wagten ab Mitte der 1950er Jahre den Aufbruch in die Moderne. In der sowjetischen Spielzeugindustrie boten sich gestalterische Freiräume, um Neues auszuprobieren und eine eigene Formsprache zu entwickeln, in der Zeitgeist und ein neues Lebensgefühl ihren selbstbewussten Ausdruck fanden. Viele ihrer bunten Spielfiguren sind große Kunst für kleine Kinder.“

Mir, der ich mit Plüschtieren von Steiff (mit Knopf im Ohr) groß geworden bin, sind diese sowjetischen Spielzeugtiere viel zu modernistisch und überhaupt nicht geeignet, sie Abends mit ins Bett zu nehmen. Sie haben zu wenig Realismus, um sich mit ihnen vorm Einschlafen oder bei Kummer auszusprechen – und das ausgerechnet im Land des sozialistischen Realismus. Aber diese einstigen Proletarierverherrlicher wollten wahrscheinlich gar nicht, dass man mit Tieren, realen oder künstlichen, redete, geschweige denn sich mit ihnen solidarisierte.

Nun hadern aber einige Naturwissenschaftler auch im kapitalistischen Realismus mit den hiesigen Kuscheltieren. In der renommierten Online-Zeitschrift „plos biology“ veröffentlichte eine Gruppe französischer Biologen eine Studie mit dem alarmistischen Titel: „Das paradoxe Aussterben der charimatischsten Tiere.“ Diese Großtiere hatten sie mit einer Umfrage ermittelt: Danach standen die Tiger und die Löwen an erster Stelle, gefolgt von Elefanten, Giraffen, Leoparden, Pandas, Geparden, Eisbären, Wölfen und Gorillas. „Abgesehen vom Wolf gelten sie alle in unterschiedlichem Ausmaß als bedroht,“ erklärte dazu die Süddeutsche Zeitung.

Die von den Wissenschaftlern der Universität Paris-Sud Befragten begegneten täglich mindestens vier Darstellungen von Löwen auf ihren Wegen. „Und die Zahl der im Jahr 2010 in Frankreich verkauften Spielgiraffe ‚Sophie‘ war mehr als acht Mal so hoch wie die der in Afrika lebenden Giraffen.“ Die „Omnipräsenz dieser Tiere in Büchern, Filmen, Spielzeugläden und in der Werbung“ stehe in „starkem Kontrast zur Anzahl ihrer tatsächlich noch lebenden Vertreter.“

Die Biologen befürchten, dass diese überbordende Masse an Dingen und Bildern von bestimmten Tieren die abnehmende Zahl dieser lebenden Tiere, ihr akutes Gefährdetsein, in den Hintergrund drängt. Sie fordern deswegen von den Herstellern dieser Dinge und Bilder eine Abgabe, „eine Art Lizenzgebühr“, die dem Schutz dieser Tierarten zugute kommen soll.

Hier und da geschieht das bereits, ohne Umweg über Staat und Gesetz, indem z.B. Verlag und Autor eines Tierbuches verkünden, dass der Gewinn aus dem Verkauf für den Schutz der jeweiligen Art eingesetzt werden soll.

Im übrigen waren mir als Kind Spieltiere und lebende Tiere gleich lieb, sie schaukelten sich gleichsam gegenseitig hoch in meinem Gefühlsleben – bis ich den „Kleinen Tierfreund“ abonnierte und überhaupt mehr über die einen wie die anderen Tiere wissen wollte.

Anders als von den französischen Biologen dargestellt gibt es auch eine massenhafte Hinwendung zu den lebenden charismatischen Tieren, dieses Interesse ist allerdings Moden unterworfen. So gerieten z.B. der „New Age“-Bewegung die Delphine zu Totemtiere, die dann auch entsprechend studiert wurden. Ja, man versuchte sogar ihre Sprache zu entschlüsseln, um sich mit ihnen unterhalten zu können. Danach führte die Walbeobachtung, u.a. in den Gewässern um Vancouver, die 1980 mit einem einzigen Boot von zwei Naturschützern begonnen hatte, dazu, dass sie sich in den Neunzigerjahren zu einer „Industrie mit Dutzenden von Schiffen aller Größen und Formen“ entwickelte, so dass ihr Motorlärm langsam für die Wale unerträglich wurde. In Kanada wurden daraufhin „Walbeobachtungs-Gesetze“ erlassen. Man sollte sich darüber klar sein, schreibt die Schwertwalforscherin Alexandra Morton (in: „Die Sinfonie der Wale“ 2002), „dass selbst ‚Zuschauen‘ allzuoft gerade für das Geschöpf, das zu sehen wir gekommen sind, eine unwiderrufliche Veränderung bewirken kann.“ Aber wie sie auch weiß, „besteht heute die größte Hoffnung für jede Spezies auf Erden darin, dass irgendeine Gruppe von Menschen sie liebt.“

Deren Interesse an einem Tier bewirkt, wenn es andere Menschen begeistert, eine wachsende Nachfrage nach authentischen Zeugnissen von dieser Tierart. Besonders Tierfilme und Tiersendungen im Fernsehen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, diese spezielle Bilderflut wird inzwischen auch bereits wissenschaftlich erforscht.

Nach dem Animationsfilm „Findet Nemo“ über einen kleinen Clownfisch wollten derart viele Aquariumsbesitzer weltweit einen besitzen, dass die Fischer am Korallenmeer ihn fast zum Aussterben gebracht hätten. Derzeit scheinen in den USA neben Katzen auch Eulen, Waschbären und Eichhörnchen zu den charismatischen Tieren der Amerikaner zu gehören, die man sich als „Pets“ ins Haus holt.

Der Tierfilmer Horst Stern gab einmal in einem Interview zu bedenken: „Wie ich denn überhaupt sagen muß, dass nicht selten passionierte Tierfreunde, insbesondere Tierfotografen, mehr Schaden in der Tierwelt anrichten als dass ihre Beobachtungen und Bilder ihr nützen.“

Wenn sie vorsichtiger vorgehen, ist es oft auch nicht recht. Der für seine Tierdokumentationen geadelte Regisseur David Attenborough verursachte einen kleinen „Skandal“, als herauskam, dass er die im Zoo gefilmte Geburt eines Eisbären in eine Sendung eingebaut hatte, die Eisbären in der arktischen Wildnis zeigte. Der des Betrugs Bezichtigte verteidigte jedoch nicht nur seine Täuschung, sondern gab gleich noch weitere zu. Die Tierfilmproduzenten sprangen ihm bei: Seine „Eisbären-Methode“ entspreche den „Redaktionsanforderungen“, sie sei „Standard“ bei der Produktion von „Natural History Programmen“. Daraufhin beruhigte die Öffentlichkeit sich wieder.

Ärgerlicher ist sowieso eher die wachsende Zahl von Tierdarstellungen und Tiertiteln auf Büchern, weil meist weder das eine noch das andere Tier darin vorkommen oder wenn, dann nur kurz und lieblos, weil es den Autoren darin doch wieder nur um sexuell konnotiertes Menscheln geht, wenn man so sagen darf. Auch dass plötzlich – z.B. auf der Kölner Kunstmesse im vergangenen Jahr – lauter Tierbilder und -plastiken ausgestellt wurden, gibt zu denken auf – insofern es den meisten Künstlern dabei nur wie den Buchumschlaggestaltern und Autoren um das Bedienen eines Trends ging (was selten ist, wird kostbar), zudem darf man sich heute kein Fell eines vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden mehr an die Wand nageln, wenn man in den Augen seiner Mitmenschen nicht als ein Riesenarschloch dastehen will, aber mit einem Schneeleoparden in Öl auf Leinwand von Vroni Graf an der Wohnzimmerwand kann man schon noch Bewunderung einheimsen (allein das „kunstnet.de“ offeriert 84 Schneeleoparden-Bilder – Preise auf Anfrage).

Die französischen Biologen wollen zunächst die großen Firmen um „conservation intensification“ angehen, die ein Tier in ihrem Logo haben, (wie z.B. die Lufthansa einen Kranich und Shell eine Jacobsmuschel). Als Naturschützer mahnen sie am Ende ihres Artikels zur Eile – bevor es zu spät ist. Der Philosoph Hans Blumenberg, der Texte und Bilder von Löwen sammelte (sie wurden 2010 veröffentlicht) meinte dagegen: „Auch ohne naturschützerische Gebärde muß gesagt werden, dass eine Welt ohne lebende Löwen trostlos wäre.“

Ansonsten gibt es über den „Zoo Moskau“ noch Folgendes mitzuteilen (aus der Zoopresseschau vom 31.März 2019):

– Moskauer Zoo wird sich mit dem Verkauf von Tierfutter beschäftigen Die Leitung des Moskauer Zoos kündigte die Schaffung einer eigenen Marke mit „hohen Qualitätsstandards“ an. Die Marke wird vom Zoo genutzt für einen Vorstoß auf den Tierfuttermarkt. Dies teilte die Leiterin des Tiergartens, S. Akulowa, Journalisten mit. Zurzeit wird Mischfutter für Raubtiere und andere Wildtiere vom Zoo im Ausland gekauft. Laut Akulowa ist dies nicht nur unpraktisch, sondern auch extrem teuer. Darüber hinaus hat der Zoo keine Möglichkeit der Qualitätskontrolle in jeder Produktionsphase.

– Ermäßigter Eintritt in den Moskauer Zoo, wenn der Familienname von einem „Vogel“ abgeleitet ist Vom 1. bis 6. April finden im Moskauer Zoo thematische Veranstaltungen zum Internationalen Tag der Vögel statt. Dies wird auf der Website des Zoos der Hauptstadt berichtet. Auf die Gäste warten spannende Exkursionen, Workshops, das Kennenlernen vieler seltener Vögel sowie ein Quiz. Der Hauptteil der „Gefiederten Woche“ wird ein Bildungs-Quest sein, der an allen Tagen stattfinden wird. Auch wird es ein besonderes Angebot geben für Träger sogenannter „Vogelnamen“ – sie erhalten ermäßigten Eintritt in den Moskauer Zoo.

– Im Moskauer Zoo wurde ein seltener Makak geboren Im Moskauer Zoo wurde ein männlicher Wanderu geboren.

– Moskauer Zoo wird Gefährten für Giraffe und Flusspferd finden Moskauer Zoo sucht Partner für Zwergflusspferd, Giraffe und Grevy-Zebra. Das teilte der Leiter der wissenschaftlich-methodischen Abteilung des Zoos, Wladimir Frolow, mit.

– Symbol des Moskauer Zoos wird wieder der Manul sein Die Rückkehr der Legende erfolgt zum 155. Geburtstag des Zoos. Swetlana Akulowa, Generaldirektorin des Moskauer Zoos, berichtete auf einer Pressekonferenz darüber. Ihren Worten nach erhielt der Zoo Tausende von Briefen und Aufforderungen [mit der Bitte, den Manul als Symbol zurückzuholen], und so wurde beschlossen, den Besuchern entgegenzukommen. Im Mai werde der Manul wieder über dem Haupteingang des Zoos zu sehen sein. Der Manul war bis 2014 das Symbol des Moskauer Zoos. Das Symbol wurde später durch eine abstrakte Darstellung von Pelikanen, Eichhörnchen, Delphinen und Tauben ersetzt.

– Im Moskauer Zoo schlüpfte Küken eines auf der Roten Liste stehenden Pinguins Moskau. Interfax.ru. Im Moskauer Zoo schlüpfte ein Brillenpinguin, wird am Freitag auf der Site des Tiergartens mitgeteilt.

– Freier Eintritt im Moskauer Zoo für alle, die im Eisbärenkostüm kommen Der Moskauer Zoo lädt am 27. Februar ein, um den Welteisbärentag zu feiern. Freien Eintritt gibt es für Besucher, die ganz in weiß kommen (Oberbekleidung, Schal und Mütze müssen weiß sein). Wer zwei weiße Kleidungsstücke anhat, erhält eine Ermäßigung von 40% auf ein Ticket, erklärte der Pressedienst des Moskauer Zoos. (Alissa Titko)

– Jubiläum im Zeichen des Manuls Der Moskauer Zoo wurde am 12. Februar (31. Januar nach dem julianischen Kalender) 1864 eröffnet. Dieses Jahr feiert der Zoo sein 155-jähriges Bestehen. Die Generaldirektorin des Zoos, Swetlana Akulowa, sprach mit „MZ“ [„Moskwa-Zentr“] über Entwicklungsperspektiven und Zukunftspläne. Den Schwerpunkt des Jubiläums setzt der Zoo auf seine Entwicklungsgeschichte und Traditionen. Im Laufe des Jahres werden in der Stadt Ausstellungen mit interessanten Fakten aus dem Leben des Zoos gezeigt. Seinen Ursprung hatte der Zoo in den Moskauer Vereinen Gesellschaft für Akklimatisation und Presnenskije prudy [Presnja-Teiche]. „Wir werden erzählen, wie die erste Sammlung entstand: Alexander II. schenkte einen Elefanten, sein Bruder, Großfürst Konstantin Nikolajewitsch, ein Nashorn, der ägyptische Herrscher ein Zebra, der Schriftsteller Anton Pawlowitsch Tschechow –Erdmännchen“, sagte Swetlana Akulowa. In diesem Jubiläumsjahr wird auf das Wahrzeichen des Moskauer Zoos sein Symbol zurückkehren – der Manul. In den 1970er Jahren gehörten die Moskauer Spezialisten zu den ersten in der Welt, denen eine regelmäßige Nachzucht von Manulen gelang. Der Tierbestand des Moskauer Zoos wird unter Berücksichtigung der entwickelten Strategie gebildet. „Für uns ist wichtig, dass wir die Tierarten erneuern, die einst im Moskauer Zoo gehalten wurden, und auch ungewöhnliche seltene Arten holen“, bemerkte Swetlana Akulowa. Seit kurzem hat der Moskauer Zoo wieder einen Sekretär im Bestand – nach 30-jähriger Unterbrechung. Vorbereitet wird auch die Eröffnung eines Kinderzoos, wo man gewöhnliche Haustiere betrachten kann. „Es stellte sich heraus, dass reinrassige Haustierrassen schwieriger zu holen sind als Wildtiere. Es gibt in Russland sehr wenige Farmen, die interessante, ungewöhnliche Rassen züchten. Einige Tierarten können nur im Ausland gekauft werden“, erklärte Akulowa. „Wir haben bereits begonnen, Tiere für die Ausstellung des Kinderzoos heranzuschaffen – so kürzlich Damwild, Schäfchen, Kühe, Hühner, Kaninchen und Enten, Alpakas, Ziegen.“

– Putin hat das Tierschutzgesetz unterzeichnet. Es verbietet Kontaktzoos und Katzencafés und führt eine Liste gefährlicher Hunderassen ein Tiere erleben Emotionen und körperliches Leiden. Jetzt ist das in Russland – Gesetz. Russlands Präsident Wladimir Putin hat ein entsprechendes Dokument unterzeichnet – das Gesetz „Über die verantwortungsvolle Behandlung von Tieren“, an dem die Abgeordneten seit 2010 arbeiteten. In Bezug auf Zoos und Zirkusse heißt es: Zooparks, Tiergärten, Zirkusse, Tiertheater, Delphinarien und Ozeanarium sollen eine Lizenz erhalten. Unterhaltung, deren Hauptzweck der physische Kontakt mit Tieren ist, ist verboten. Das heißt, Streichelzoos sollen geschlossen werden.

– Ein Neujahrs-Geschenk: In den ersten Tagen des Januar erscheinen 365 tropische Schmetterlinge im Moskauer Zoo Ein ungewöhnliches Neujahrs-Geschenk hat der Moskauer Zoo für seine Besucher vorbereitet. Anfang Januar werden 365 seltene exotische Schmetterlinge aus den Philippinen und Costa Rica in der Ausstellung auftauchen. In der Ausstellung werden acht verschiedene Schmetterlingsarten zu sehen sein. Dies sind Gelbrand-Schwalbenschwanz, Grüngestreifter Schwalbenschwanz, Kleiner Mormon, Scharlachroter Schwalbenschwanz und Blauer Segelfalter von den Philippinen sowie Eulenfalter und Blauer Morphofalter aus Costa Rica.

Viele in Gefangenschaft gehaltene Vögel sagen irgendwann „Nein“ zum Entzug ihres Luftraums – und flüchten durch ein offenes Fenster ins Freie. Gelegentlich sieht man entflogene Kleinpapageien – australische Wellensittiche und Nymphensittiche – in einem Straßenbaum sitzen, ihre Besitzer stehen unten mit dem Käfig in der Hand und versuchen sie zurückzulocken, oft hilft die Feuerwehr mit einem Leiterwagen – jedoch meist vergeblich.

Man sagt, dass die exotischen Vögel nicht lange in Freiheit überleben: Wegen der Kälte und weil die hiesigen Vögel sie jagen. In den Achtzigerjahren soll es in Berlin jedoch so viele entflohene Wellensittiche gegeben haben, dass sie sich zu einem wehrhaften Schwarm zusammenfanden und am Stadtrand in Rieselfeldern überlebten, wo sie bei Kälte zusammenrückten.

Im Rhein-Main-Gebiet bildeten indische Halsbandsittichen nach ihrer Flucht ebenfalls kleine Schwärme, sie leben jedoch in den Innenstädten, wo sie sich u.a. von den weggeworfenen Speiseresten der Menschen ernähren. Lange Zeit waren sie sehr beliebt, aber es wurden immer mehr und ihr herabregnender Kot und ihr Gekreische wurde zunehmend als lästig empfunden. Zumal Abends, wenn mehr als 1000 dieser grünen Papageien mit roten Schnäbeln sich auf ihren Schlafbäumen in der Altstadt versammelten und alle durcheinander redeten.

Der Deutschlandfunk berichtete, dass die Stadt deshalb beschlossen habe, sie zu vertreiben. „Sie sollen nur dann in Ruhe gelassen werden, wenn sie sich einen Ort suchen, an dem sie niemanden stören.“ Die Naturschützer sind dagegen – die Papageien seien für andere Vogelarten nützlich. Der NABU-Ornithologe Achim Kemper erklärte, dass sie z.B. der Hohltaube helfen: „Der Sittich hält den Höhlenraum vor, und die Hohltaube wartet, bis dieser seine erste Brut großgezogen hat, dann kann sie noch innerhalb der Sicherheit der Halsbandsittich-Kolonie erfolgreich brüten.“

In Düsseldorf nutzen die Halsbandsittiche ihren Schlafplatz in der Innenstadt zusammen mit Rabenvögeln. Tobias Krause vom dortigen Gartenamt erklärt jedes Herbst geduldig aufs Neue: „Das müssen die Leute einfach hinnehmen“ – wenn auf der „Kö“ die Zahl der Vögel auf 3.000 anschwillt.

In Stuttgart haben sich inzwischen Amazonenpapageien eingelebt. Auf einer Internetseite heißt es dazu: „Eine kleine Population von ca. 60 Amazonen tummeln sich in den unterschiedlichen Stadtteilen von Stuttgart und das nun schon seit über 30 Jahren. Mittlerweile ist die Amazone in Deutschland als einheimische Art anerkannt, da die sie sich seit mehr als 25 Jahren selbstständig ohne fremde Hilfe ernährt und über mehrere Generationen hinweg fortpflanzen kann.“ Dazu gibt es auch eine Broschüre von Tomoko Arai, Bianca Hahn und Dieter Hoppe: „Die Papageien von Stuttgart“ (2016)

In spanischen Städten leben argentinische Mönchssittiche. Dabei handelt es sich ebenfalls um entflogene oder ausgesetzte Papageien. Sie wurden dort zunächst zwar als gerechte „Rache für die Conquista“ angesehen, aber mit zunehmender Zahl (über 5000 wurden 2016 allein in Madrid gezählt) sind selbst die Vogelschützer sich nicht mehr einig, ob man sie wie jede Vogelart schützen oder vertreiben soll, weil sie eventuell einheimische Vogelarten verdrängen.

Sie vertreiben sich aber auch selbst, indem sie bereits in etlichen anderen EU-Staaten heimisch geworden sind. Ihre größte Kolonie soll es in Köln geben, wo sich die Mönchssittiche mit den Halsbandsittichen um Nahrung streiten. Umgekehrt haben sich die Halsbandsittiche aber auch nach Spanien ausgebreitet, ihre Hauptstadt ist Barcelona. Dort wie nahezu überall in Europa sind die Kleinpapageien auf dem Vormarsch, während die Spatzen immer seltener werden.

In Berlin-Mitte saß im vergangenen Frühjahr, als es noch kalt war, ein aus Indonesien stammender weißer Kakadu namens Charlie in einem Baum und wollte nicht zurück zu seiner Besitzerin, die auf der Straße stand und ihn vergeblich nach unten zu locken versuchte. Schließlich rief sie die Feuerwehr, die mit acht Mann, einem Löschfahrzeug und einem Leiterwagen anrückte. Die Besitzerin des Vogels mußte die Kosten des Einsatzes bezahlen – rund 1000 Euro. Zunächst wurde sie aber erst einmal mit der Drehleiter hochgefahren – nahe an Charlie heran, so dass sie ihn bitten konnte, sich auf ihre Hand zu setzen, was er auch tat. Unten am Baum sammelten sich derweil immer mehr Schaulustige, die sich dann alle über die gelungene Rettungsaktion freuten.

Ähnliches passierte in Göttingen, wo die Feuerwehr einen vier Jahren alten mittelamerikanischen Blauara namens Diego mitsamt seiner Besitzerin, der er entflogen und die ihm deswegen nachgestiegen war, aus einem hohen Baum holte.

Im Esslinger Tierpark entkam ein Papageienpärchen. Vielleicht wurde es auch „befreit“. Die beiden saßen auf einem Wohnhaus. Tierrettung, Feuerwehr und Tierparkmitarbeitern gelang es, sie „widerstandlos in Gewahrsam“ zu nehmen, wie die Polizei mitteilte.

Weniger glücklich ging dagegen der kurze Flug der südamerikanischen Blaustirnamazone Riko auf einen Baum in Kassel aus. Sein Besitzer, Peter Koch, ein Musiker, lebte 32 Jahre mit ihm zusammen, wobei der Papagei, sein „bester Kumpel“, am Liebsten auf seiner Schulter saß. Auch ein offenes Fenster lockte ihn nicht in die Freiheit. Jetzt im Februar wollte Peter Koch die Batterie seines Motorrads ausbauen und ging vor die Haustür – ohne zu merken, dass Riko immer noch auf seiner Schulter saß. Auf der Straße erschreckte sich der Papagei und flog auf einen Baum. Dort blieb er auch, als sein Besitzer eine – zu kurze – Leiter holte. In seiner Not rief er die Feuerwehr, die kam jedoch nicht: Ein entflogener Vogel sei kein Notfall. Als es dunkel wurde und anfing zu regnen, wurde Riko unruhig und flog über ein Haus davon. Am übernächsten Tag fand man ihn nur wenige Häuser entfernt tot am Boden. Peter Koch gibt der Feuerwehr die Schuld. Er hat eine CD zusammengestellt mit selbst eingesungenen Liedern, die der Papagei gerne gehört hat, auf dem Cover steht: „In Gedenken an Riko, dem die Kasseler Feuerwehr jede Hilfe verweigert hat.“ Desungeachtet macht er sich selbst die schlimmsten Vorwürfe. Das Foto zeigt die Papageiensammlung des Londoner Natural History Museums:

Die südamerikanischen Blaustirnamazonen sind ähnlich sprach- und gesangsbegabt wie die afrikanischen Graupapageien. 2007 starb Alex, die Intelligenzbestie unter den Graupapageien. Er war zwar in 31 Jahren bei seiner Besitzerin, der Psychologin Irene Pepperberg, die ihm unentwegt Worte und Zahlen beibrachte, nie weggeflogen, dafür hatte er aber gelernt, „Nein!“ zu sagen. In Pepperbergs Buch „Alex und ich“, das sie ein Jahr nach seinem Tod veröffentlichte, heißt es: „Während unserer Arbeit lernte Alex, Nein zu sagen. Und Nein hieß dann auch Nein.“

Bis es so weit war, hatte er es erst einmal auf die unter Papageien übliche Weise zu „sagen“ versucht: laut kreischen, beißen oder, „wenn er keine Lust mehr hatte, auf die Fragen eines Sprachtrainers zu antworten, die betreffende Person ignorieren“, ihr den Rücken zukehren, sich ausgiebig putzen…

Meist kam er damit durch, seine Trainer verstanden ihn: „Subtil war unser Alex nicht gerade“, meint Irene Pepperberg. Aber dann hörte er unbeabsichtigt das Wort Nein, „und schon bald verwendete er diese Bezeichnung, um uns zu verstehen zu geben: ,Nein, das mag ich nicht!‘“

In einem Dialog mit seiner Sprachtrainerin Kandia Morton hörte sich das so an: „K: Alex, was ist das? [ein quadratisches Holzstück hochhaltend] – A: Nein! – K: Ja. Was ist das? – A: Vier Ecken Holz [undeutlich, aber richtig] – K: Vier. Sag es schöner! – A: Nein! – K: Ja! – A: Drei. Papier [völlig falsch] – K: Alex. Vier, sag vier. – A: Nein. – K: Komm schon. – A: Nein.“

Laut seiner Besitzerin genoss Alex seine wachsende Publicity: Kameras, Mikrofone, staunendes Personal, freudige Trainer und Fans: „Er stand nun mal gerne im Mittelpunkt. Dann trat ein gewisses Glitzern in seine Augen, er plusterte sich auf – im übertragenen Sinne – und nahm die Pose des Stars an.“ Irgendwann war er jedoch das ewige Sprachtraining und auch die wachsende Aufmerksamkeit leid: „In puncto Verweigerung wurde er umso kreativer, je älter er wurde“, schreibt Irene Pepperberg, dennoch freute sie sich: „Alex versteht die Bedeutung des Begriffs ,Nein‘.“ Sie folgerte daraus sofort – ganz im Sinne der Beschreibung ihres Alex-Sprachforschungsprojekts: „Sein Ausdruck eines negativen Konzepts war durchaus schon als fortgeschrittenes Stadium sprachlicher Entwicklung zu betrachten.“ Aber im Herbst 2007 sagte Alex endgültig Nein – und starb. Seine Besitzerin brach darüber fast zusammen. Ihr ganzes Leben und ihre Wissenschaftskarriere hatte an ihm gehangen.

Mit der Schaf- und Ziegenzucht und ihrer Ausbreitung war einst auch ein Hirtenglaube über die Welt gekommen: der Monotheismus (Judentum, Christentum und Islam). Wahrscheinlich wurden vor etwa 10.000 Jahren zuerst wilde Schafe (Mufflons) im Orient gefangen gehalten. Mit ihrer Domestizierung entwickelte sich der Hirtenstand. Und bald wurden dort auch alle Herrscher als Hirten begriffen, sie behüteten die Menschen als Herde wie auch als Individuen. Der Wissenshistoriker Michel Foucault geht in seiner „Geschichte der Gouvernementalität“ (2006) davon aus, dass sich die Idee einer „pastoralen Macht“ (Häuptling, König oder Gott) in Ägypten, Assyrien und Babylon durchsetzte. Bei den Hebräern wurde dann „das Pastorat ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und dem Menschen“. Es ging dabei, anders als heute, da man in Israel die Heilige Schrift als Grundbuch liest, nicht um das Besetzen eines Territoriums: „Die Macht des Hirten wird per definitionem auf eine Herde ausgeübt.“ Dem griechischen Denken ist die Idee fremd, dass die Götter die Menschen wie ein Pastor, wie ein Hirte seine Schafherde führen. Sie haben „territoriale Götter“. Die orientalische Hirtenmacht wurde dagegen laut Foucault auf „eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung“ ausgeübt. Das „Heil der Herde ist für die pastorale Macht das wesentliche Ziel“.

Moses, Abraham, Isaak und Jakob waren Schafhirten. Moses wurde als Hirte seines Volkes von Gott auserwählt, weil er seine Schafe in Ägypten so umsichtig gehütet hatte. Der erste (umherziehende) Schafhirte nach der Vertreibung aus dem Paradies war Abel, der von seinem (seßhaften) Ackerbauer-Bruder Kain erschlagen wurde.

In der „hebräischen Thematik der Herde“ schuldet der Hirte laut Foucault seinen Schafen alles, „bis dahin, sich selbst für das Heil der Herde zu opfern“. Dass er seine Herde gegebenenfalls im Stich läßt, um eins zu retten, das sich verirrt hat, nennt Foucault „das Paradox des Hirten“, der das Eine für das Ganze opfert und das Ganze notfalls für das Eine: „Etwas, das im Mittelpunkt der christlichen Problematik des Pastorats steht.“ Dabei hat der „abendländische Mensch“ in Jahrtausenden gelernt, „was zweifellos kein Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, sich als Schaf unter Schafen zu betrachten“.

In Platons „Nomoi“ (Gesetzen) wird kurz der Begriff des Hirten ausgehend von der Frage diskutiert: Kann der athenische Magistrat, der dem Hauptmagistrat untergeordnet und eine Art Polizei ist, eine Hirtenfunktion haben? Man sagt zwar, der gute Magistrat ist derjenige, der ein wahrer Hirte ist. Aber ein Hirte bemüht sich doch nur so lange um seine Tiere, bis er ihnen die Kehle durchschneidet, um sie zu verkaufen. Dem wird entgegengehalten, das ein egoistischer Hirte etwas Widersprüchliches sei. Für Platon kommandiert der Hirte die Tiere in seiner Herde, er befiehlt ihnen: „das heißt offensichtlich, ihr Hirte zu sein“. Nun haben sich aber „die Götter zurückgezogen, und die Menschen sind genötigt, sich gegenseitig zu lenken, d.h. sie brauchen Politik und Politiker“. Weil diese als Menschen andere Menschen „betreuen, stehen sie nicht über der Herde, wie die Götter über der Menschheit stehen konnten, und man kann sie folglich nicht als Hirten betrachten“. Stattdessen wird das „Modell des Webens“ für sie von Platon vorgeschlagen. „Der Politiker ist ein Weber“.

Bis heute hält sich jedoch die Vorstellung, dass wenigstens noch für die christlichen Pastoren und Priester gilt, ihre Gemeinde, ihre „Schäfchen“ wie ein Hirte seine Herde zu betreuen. Dazu hat ein Professor für Pastoralsoziologie, Hermann Steinkamp, 1999 ein Buch veröffentlicht: „Die sanfte Macht der Hirten. Die Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie“. Der Autor sieht in Foucaults genealogischen Vorlesungen über das Pastorat eine „Provokation“, die er gleichwohl für die Kirche nutzbar machen möchte. Denn angesichts ihres schwindenden Einflusses auf die Menschen, nicht zuletzt wegen des „Wohlfahrtsstaates“ als „säkularisierte Pastoralmacht“, gibt es nun auch in den Kirchen eine Art „Paradox des (Seelen-)Hirten“: Er darf seinen Gemeindemitgliedern nicht mehr befehlen, seine „Schäfchen“ lassen sich nicht mehr die Lebensführung vorschreiben, aber „bestimmte Formen des Helfens“ können laut Steinkamp doch „zu subtiler Machtförmigkeit tendieren, natürlich auch im Einflußbereich christlicher Diakonie.“

Ich weiß nicht, ob der Autor dabei an die zigtausend Fälle von Päderastie in der katholischen Kirche denkt, aber ich bin sicher, dass sich das „Paradox des heutigen Seelenhirten“ mit Foucault nicht auflösen läßt. Im übrigen ist auch die Vergewaltigung von Schafen durch ihre Hirten mindestens in den USA weit verbreitet: Im Kinsey-Report über das Sexualverhalten der Amerikaner wird diese Praktik gar als ländliches Pendant zur urbanen Onanie bezeichnet. Von daher dürften die Verfehlungen der katholischen Priester gegenüber ihren kleinen Schäfchen keine singulären Akte sondern in der Struktur des Glaubens und der Kirche begründet sein.

Die Köthener Schriftstellerin Kathrin Gerlof schreibt in ihrem ostdeutschen Dorfroman „Nenn mich November“ (2018): „Seine Schafe ficken, das ist hier im Dorf eine gängige Übung. Robin hat es selbst einmal gesehen, als er hinten am alten Schafstall vorbeigelaufen ist. Da stand der blöde Pokorski hinter einem Schaf und machte diese Bewegungen. Ihm war ganz schlecht geworden, aber weglaufen ging nicht. Er musste sich das bis zum Ende anschauen. Das dumme Schaf hat stillgehalten, als sei es solche Sachen gewohnt.“

Der kürzlich wegen Kindesmißbrauch zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilte australische Kardinal Pell sagte es so: „Abtreibung ist schlimmer als Kindesmissbrauch“ und der frühere Papst Joseph Ratzinger meinte Ende Februar anlässlich der „Missbrauchskonferenz im Vatikan“: „Die Sache beginnt mit der vom Staat verordneten und getragenen Einführung der Kinder und der Jugend in das Wesen der Sexualität.“ Also die zigtausend Priester mißbrauchen mit ihrer angemaßten Autorität nicht die Kinder, sondern umgekehrt, die durch die 68er-Bewegung sexualisierten Kinder und Jugendlichen verführen quasi die Priester. „Dass das absurd ist, weiß Ratzinger selbst. Die Verleumdung der sich unter gravierenden Verirrungen befreienden Gesellschaft ist auch lediglich sein Absprungbrett für einen ganz anderen Zielpunkt. Ratzinger geht es nicht um Liebe, nicht um das Ende des Missbrauchs, sondern um die Wiedereinsetzung von totalitärer katholischer Herrschaft. Er will nicht jammern, er will gewinnen,“ schreibt Ambros Waibel in der taz. Im „Spiegel“ heißt es: „In einem Aufsatz macht der emeritierte Papst die Achtundsechziger für Übergriffe katholischer Priester auf Kinder mitverantwortlich. Die Kirche, behauptet Benedikt der XVI., sei ‚wehrlos‘ gewesen. ‚Wieso konnte Pädophilie ein solches Ausmaß erreichen? Im letzten liegt der Grund in der Abwesenheit Gottes.‘ Eine Welt ohne Gott sei eine Welt ohne Moral.“ Diese gottlose Welt sieht er bei den Schäfchen und nicht bei den Priestern. Aber bei denen hätte sich ‚ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte‘.“ In der FAZ heißt es dazu, dass für Ratzinger die „sexuelle Revolution“ der Sechzigerjahre die katholische Kirche quasi „infiziert“ habe. Die Kritiker dieses elenden Ratzinger-Pamphlets erinnerten derweil daran, dass die Dokumentationen von Mißbrauchsfällen in der Kirche bis in die Vierzigerjahre zurückreichen und auch in den USA die Fälle von sexueller Gewalt schon lange vor der „sexuellen Revolution‘“ ein Problem der Kirche gewesen seien. Die New York Times hat Ratzinger alias Papst Benedikt derweil vorgeworfen, dass er als Kurienkardinal nicht gegen einen US-Priester vorgegangen ist, der bis zu 200 gehörlose Jugendliche sexuell mißbraucht haben soll, obwohl mehrere US-Bischöfe ihn auf diesen Fall hingewiesen hätten.

Das „Lamm Gottes“ (Agnus Dei – siehe Bild): Jesus – Gottes Sohn – wurde von seinem Vater geopfert, um „die Sünde der Welt hinwegzunehmen,“ wie es im Johannesevangelium heißt. Zuvor hatte Gott bereits Abraham befohlen, ihm seinen Sohn Isaak zu opfern. Abraham war dazu auch bereit, aber im letzten Augenblick hielt ihn ein Engel davon ab, stattdessen opferte er ein Schaf, wie es in der Bibel heißt. „Nach Immanuel Kant hätte Abraham wissen müssen, dass der Opferbefehl nicht von Gott stammen konnte, denn es sei nicht möglich, dass Gott dem moralischen Gesetz widerspreche,“ schreibt die protestantische Neue Zürcher Zeitung, „Abrahams Antwort auf Gottes Begehren hätte deshalb nach Kant lauten müssen: ‚Dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott seist, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden, wenn die Stimme auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete.‘ Dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kommt in diesem gedanklichen Kontext keine andere Funktion zu als diejenige des schwarzen Hintergrunds für Kants eigenen Gott, das moralische Gesetz.“

Seitdem dieses in der Welt ist, hätte man den monotheistischen Gott und seine verfluchten Priester eigentlich zum Teufel schicken müssen. Stattdessen empfanden jedoch die Kinder und Jugendlichen in der Obhut der Priester deren Zudringlichkeiten als „Hölle“. Bei den Regensburger Domspatzen ermittelte ein Anwalt: Nach einer zweijährigen Untersuchung des Missbrauchsskandals bei dem weltberühmten Knabenchor heißt es in seinem Abschlussbericht laut „Die Zeit“: „500 Chorkinder hätten körperliche Gewalt erlitten, 67 sexuelle Gewalt. Es gebe aber eine Dunkelziffer, sagte der Sonderermittler. Er gehe von mindestens 700 Opfern aus. Die Opfer beschrieben die Zeiten bei den Domspatzen im Nachhinein als ‚Gefängnis, Hölle und Konzentrationslager‘ oder als ‚schlimmste Zeit ihres Lebens, geprägt von Angst, Gewalt und Hilflosigkeit‘. Besonders in der Vorschule des Chores seien die Übergriffe umfassend gewesen, sagte der Opferanwalt. Er erhob auch Vorwürfe gegen den heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller und den ehemaligen Chorleiter Georg Ratzinger, den Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Ratzinger sei sein Wegschauen und „fehlendes Einschreiten trotz Kenntnis“ vorzuwerfen. Im Umgang mit konkreten Fällen habe der Schutz der Institution im Vordergrund gestanden. Opferschicksale seien ignoriert, teilweise sogar Beschuldigte geschützt worden.“ Aber um die Sache hier abzukürzen: Das Schäfchenficken gehört wahrscheinlich zum Wesen der katholischen Kirche, wenn nicht überhaupt zum monotheistischen Pastorat. Oder – mit Alfred Charles Kinsey gesprochen: Die katholische Pädophilie ist das Pendant zur pastoralen Sodomie.

Der Kinderschutzexperte des Vatikans, Hans Zollner sagte der Osnabrücker Zeitung: „Wir müssen zugeben, dass wir wegen des Mißbrauchs in einer Krise stecken.“ Christian Pfeiffer,  „der bekannteste Kriminologe des Landes sollte den Missbrauch in der katholischen Kirche aufklären. Das Forschungsprojekt scheiterte. Jetzt erhebt er schwere Vorwürfe gegen Würdenträger der Kirche, unter anderem gegen deren Missbrauchsbeauftragten Stephan Ackermann. Es geht um Schweigegeld (120.000 Euro), um Drohungen und Vertuschung, schreibt der „stern“ sowie um Nötigung durch den Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Arte sendete eine Dokumentation „Gottes missbrauchte Dienerinnen“, darin wurde berichtet, dass „weltweit Priester im geheimen Nonnen erpresst und vergewaltigt haben. Die Kirche versuchte dies jahrelang zu verheimlichen.“ Als der Sender die Dokumentation ins Internet stellte, erwirkte die katholische Kirche gerichtlich in Form einer im Film zu sehenden Person, dass Arte ihn aus der Mediathek nehmen mußte.

Allüberall wollen die Bischöfe sich jetzt zerknirscht bei den Opfern entschuldigen und das Gespräch mit ihnen suchen. Die Presse ist landauf landab und auch im katholischen Polen voll davon. So wird aus einem strukturellen Problem ein verdummend moralisches. Eine ZDF-Redakteurin urteilte gar: „Die ganze Gesellschaft hat versagt“. Meint sie damit die katholische Weltgesellschaft, eine Art päpstliche Umma?

Etwa zur selben Zeit, als hier 1529 die sogenannte „Transsubstantiationsdebatte“ stattfand, dieweil im „Großen deutschen Bauernkrieg“ aus braven Leibeigenen „Wölfe im Schafspelz“ geworden waren, verwandelte sich auch das Wesen der englischen Schafe: Der humanistisch gesonnene Lordkanzler Thomas Morus sprach von „menschenfressenden Schafen“: Die Landstraßen waren gesäumt mit Galgen, an denen Bettler, Diebe und Aufsässige hingen. Wer zur Zwangsarbeit nach Nordamerika verfrachtet wurde, hatte noch Glück; dafür stürzten diese Siedler bald die dortige Urbevölkerung ins Elend: Sie wurde fast ausgerottetet. Ihr Präsident Theodore Roosevelt, ein leidenschaftlicher Großwildjäger, sprach rückblickend von einem „gerechten Krieg“: „Dieser großartige Kontinent konnte nicht einfach als Jagdgebiet für elende Wilde erhalten werden“. Was war geschehen, dass die Schafe plötzlich Menschen „fraßen“ – sogar über Kontinente hinweg? Englische Landadlige und reiche Kaufleute hatte zigtausende Kleinpächter von ihren Ländereien verjagt und die Allmenden der Dörfer kassiert, um darauf Schafe weiden zu lassen, deren Wolle die Spinnereien benötigten. In Eckhard Fuhrs Buch „Schafe“ fand ich einen Hinweis auf den Ethnologen Wolfgang Jacobeit, der in seinem Buch „Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“ (1961) einen Beobachter aus dem 16. Jahrhundert zitiert, der ähnlich wie Morus meinte: „Ja, diese Schafe sind an allem Unheil schuld, denn sie haben den Ackerbau aus dem Land getrieben, durch den früher Lebensmittel aller Art geliefert wurden, und jetzt gibt es nichts als Schafe, Schafe, Schafe.“ Und heute ist es Mais, Mais, Mais.

Der deutsche Bauernkrieg, das englische Bauernlegen, die fast vollständige Vernichtung der amerikanischen und australischen Indigenen sowie zuletzt die Konflikte zwischen Hutus und Tutsis – diese Kriege haben alle einen ähnlichen Hintergrund, der mit den biblischen Namen „Kain“ und „Abel“ symbolisch umrissen wurde. „Kain und Abel waren die ältesten Söhne Adams und Evas. Kain, der Ackerbauer, war neidisch auf seinen Bruder Abel, den Hirten, weil Gott dessen Opfer (ein Lamm) vorzog. In der Folge kamen ihm böse Gedanken, er hörte nicht auf die Ermahnungen Gottes und erschlug schließlich seinen Bruder. Damit wurde er laut Bibel und Koran zum ersten Mörder.

Der Schweizer Entwicklungshelfer und Schriftsteller Al Imfeld schreibt auf seinem blog über den Kain-Abel-Konflikt bei den Hutus und Tutsis: „Burundi ist mit 27.800 qkm kleiner als die Schweiz (41.000 qkm). Heute leben in B. etwas über 8 Millionen Menschen. 280 Einwohner pro qkm. Und das neben den Kühen, Ziegen und Schafen. B. hat zu viele Kühe, schätzungsweise 12 Millionen. Die Volksgruppe der Tutsi ist pastoral, d.h. es wird eine Vieh-Kultur betrieben. In B. dominieren die Tutsi, obwohl sie eine Minderheit sind. Sie zeigen ihre Macht über die Zahl der Kühe. Ein Zyniker müsste sagen: B. benötigt Schlachthöfe, bevor die Menschen beginnen, sich selbst abzuschlachten. Die Tutsi sind stolz auf ihre Kühe: Je mehr einer davon besitzt desto höher sein Ansehen in der Gesellschaft. Warum braucht B. so viele stolze Kühe? Der Brautpreis wird bei den Tutsi mit Kühen ausgehandelt.Die Tutsi sind also ein Hirtenvolk, hochgewachsen, ja, hochstämmig. Sie haben traditionellerweise den Brautpreis. Die Familie eines jungen Manns muss für die kommende Braut einen Abfindungspreis bezahlen. Dieser besteht in Kühen. Einst waren das vielleicht 3 Kühe. Heute zahlt ein besser gestellter Tutsi für ein schönes Mädchen bis zu 100 Kühe – und immer mehr und mehr.

Die Hackbauern Hutu kennen diese Form des Brautpreises nicht. So haben seit langem die ärmeren Tutsi ihre Braut bei den Hutu gesucht. Und so ist die hier skizzierte Trennung letztlich längst aufgehoben. Forscher nehmen heute an, dass Rwanda-Burundi zu einer Mischkultur wird. Da die Trennung eine kulturelle Fiktion ist, existiert eine Métissage-Kultur.

Die deutschen Kolonialisten waren von den hochgewachsenen und sich stolz gebenden Tutsi begeistert. Für einige Forscher war es sofort klar, diese Menschen sind entweder nilotischen oder gar hamitischen Ursprungs. Die Deutschen bevorzugten sie. Sie machten sich damals keine Gedanken, dass sie dieselbe Sprache wie die Hutu – nämlich das Kinyarwanda – sprachen. Der deutsche Ethnologe H. Baumann (er war der Vater von Hermann, der der bekannteste Nazi-Afrikanist war) schrieb eine Studie 1913, worin er für diese Gegend 3 Stämme beschrieb, also Ethnien, und klar unterschied zwischen Bantu (= Hutu) und hamitisch (Tutsi) und dem Urvolk der Twa (= Pygmäen). Diese Einteilung hatte verheerende Folgen. Die Deutschen bevorzugten die Tutsi und schauten auf die Hutu hinunter. Sie deklarierten die Hutu als minderwertig und rückständig.

Heute wissen wir, dass alle Bantu sind, jedoch eine andere kulturelle Entwicklung eingeschlagen haben. Die Hutu als Hackbauern, die ihre Felder an den vielen Abhängen der Hügel bebauten; sie blieben klein und eher geduckt, so wie unsere Bergbauern in der Schweiz auch. Ihre Verschiedenheit ist daher nicht rassisch sondern agrikulturell bedingt.

Die Tutsi waren Viehzüchter und Viehbauern mit einer Weidekultur, die Jahrhunderte lang mit den Hutu ineinander ging. Nach der Ernte liessen die Hutu das Vieh zum Weiden in ihr abhängiges Gelände.

Die Twa sind diejenigen, die den naheliegenden Rand der Urwälder und Teile des Innern des Waldes bebauten. Ihre Körperform passte sich ebenfalls der Umwelt und ihrer Betätigung an.

Die Belgier bauten dann ihre koloniale Administration auf dieser Dreiteilung auf, auch sie dachten rassisch und nicht kulturell. So kam dann die Zeit der Unabhängigkeit 1962. Die Belgier projizierten ihr Heimproblem nach Rwanda-Burundi; d.h. für sie war diese Lage hier einfach eine afrikanische Form von wallonisch und flandrisch. So teilten sie diese Einheit in zwei Nationen und schrieben gar in die Verfassung, dass Rwanda das Gebiet der Hutu und Burundi das Herrschaftsgebiet der Tutsi sei. Das konnte nur zur Katastrophe führen, denn Burundi enthält etwa 85% Hutu, 14% Tutsi und nur 1% Twa.

Die zwei Länder wurden stark missioniert. Schweizer waren darunter, weil alle deutschen Missionare nach dem 1. Weltkrieg, als Deutschland seine Kolonien verlor, ersetzt werden mussten. Die katholische Kirche hatte dort alles in Händen; sie liess nur jemanden studieren, wenn er den Willen bezeugte, Priester zu werden. Überbetont wurde die Keuschheit und das Zölibat der Priester. Die Missionare gingen davon aus, dass in diesen Menschen der Teufel sitze und dieser Teufel alles über Unkeuschheit in Händen habe. Die Seminaristen wurden auf absolute Keuschheit hin gedrillt, obwohl wohl niemand diese Keuschheit ausser mit Kitsch von der Jungfrau Maria bis zur kleinen Theresa zu illustrieren vermochte. Jahrelang hielt man die Zöglinge von zuhause fern und war der Überzeugung, so würde man die kommenden Priester zölibatär erziehen. Wer nicht mitmachte, wurde entlassen und hatte keine Chance weiter zu studieren. Wer mit einem Mädchen versteckt irgendwo entdeckt wurde, wurde ebenfalls sofort entlassen.

Und so haben diese 2 Länder genauso wie der Kongo die Exseminaristen, die in die Politik gingen, aber ohne jegliche Ausbildung. Der Erzbischof von Rwanda-Burundi war ein Schweizer, der Walliser André Perraudin, der den ersten Präsidenten Habyarama fast persönlich heranzog und dem er auch nachher Anweisungen gab. Er legte ihm gar Sein und Zeit von Martin Heidegger, einem der s(p)innigsten Philosophen, ins Vorzimmer, damit er bei täglicher kurzer Lesung „langsam gescheiter“ würde. Daneben stand ein anderes (Heidegger-) Werk Der Feldweg, das Denken als Weg neologistisch vorzeichnet. Der Katholizismus von Rwanda-Burundi war ein verkrampfter und verlogener, engstirnig, borniert. Er besass keine Kraft, Hutu und Tutsi einander näher zu bringen. Dieser Katholizismus war auf Seite der Hutu, der Hackbauern. Die Tutsi als Viehzüchter wurden als stolz – im verächtlichen Sinn – betrachtet.

Einst ging es zum Teil friedlich ineinander über, wenigstens solange die Tutsi die Kühe frei weiden lassen konnten. Ich erinnere jedoch an unsere Mischkultur im Napfgebiet: Gnad Gott, wenn die Kuh des Nachbarn auf unserer Seite ein Gräschen abschleckte… Es gab Streit. Und stellt euch nun die Lage in Rwanda-Burundi vor. Natürlich begannen die Hutu zu zäunen, vor allem auch dann, als Gemüse angebaut wurde. Da ist die alte Freizügigkeit des Viehs zu Ende. Da muss es Streit geben. Das ist die Grundlage des ewigen Zwistes heute in diesen zwei Ländern.“

Ergänzendes dazu fand ich in der Süddeutschen Zeitung vom 5.April 2019:

„Als die Deutschen in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts vom heutigen Tansania aus in die Gegend vordrangen, die das heutige Ruanda bildet, stellten sie fest, dass die Tutsi mit Viehzucht befasst waren, während die Hutu als Ackerbauern lebten. Die Tutsi waren feudale Grundherren, denen die Hutu, sozial und politisch rechtlos, unterstellt waren. Dass man durch sozialen Aufstieg sein „Hututum“ ablegen konnte, dass man umgekehrt nach dem Verlust seiner Rinder seinen Status als Tutsi verlieren und zu einem Hutu werden konnte, war den Deutschen nicht bekannt. (…)

Dafür stabilisierten die Deutschen die Herrschaft des Tutsi-Adels über die Masse der Hutu-Bauern. Militär, Verwaltung und die Missionare der White Fathers diskriminierten und benachteiligten gemeinsam die Hutu, politisch wie soziologisch, indem sie ihre Arbeitskraft ausbeuteten, ungerechte Rechtssprechung genauso einführten wie ein Zweiklassen-Steuersystem, Hutu-Kindern ab 1913 den Besuch von Regierungsschulen verbaten und immer wieder mit grausamen Militäraktionen aufkeimenden Widerstand brachen. Die Hutus nannten die Deutschen denn auch „ibisimba“, wilde Tiere. Die Deutschen aber geheimnisten in die Tutsi Edelmut und Schönheit heinein: Der Tutsi, schwärmte Hauptmann Wilhelm Langheld im Jahr 1894, vereinige „in seinem Äußeren die Krafterscheinung eines Naturmenschen mit der klassisch schönen Erscheinung der Statue des Praxiteles“.

Anthropologen wie Jan Czekanowski und einige seiner Kollegen sahen wohl, dass die Tutsi dieselbe Sprache sprechen wie die angeblich so anderen Völker. Das ließ sie aber nicht an ihrem alttestamentarisch fundierten rassischen Aberglauben zweifeln, nein, sie erklärten das einfach weg. Wahn schlug hier die Wirklichkeit, die Unterscheidung der Menschen nach sozialem Status und wirtschaftlichen Aktivitäten wurde biologisiert und ethnisiert, Hutu und Tutsi wurden zu verschiedenen Rassen erklärt. 1916 übernahmen dann die Belgier Ruanda. Knapp 20 Jahre später setzten sie die konstruierte ethnische Differenz in bürokratische Maßnahmen um, indem sie Ausweispapiere einführten, die die ethnische Zugehörigkeit jedes einzelnen Ruanders endgültig fixierten.“

Man kann es auch so sagen: Wie überall auf der Welt wurden aus lamarckistischen Umwelteinflüssen darwinistische Mutationen, d.h. aus Soziologie und Ökonomie wurde Biologie: eine grauenhafte Dummbeutel-Reduktion. Aber das war noch nicht reduziert genug: Schließlich wurde die Biologie in Chemie und Physik aufgelöst – eine Gerätewissenschaft.

Ekpathische Schafforschung – Auf einer Veranstaltung über den „Projektbegriff“ traf ich einen Polymerforscher der Universität Aachen, der ein Plastik entwickelte, das man für Knochenbrüche verwenden soll. Die „Nägel“ lösen sich im Körper auf, wenn der Bruch wieder zusammengewachsen ist. Dazu muß der Doktorand einer Reihe von Schafen ein Bein brechen und sein Plastik daran testen. Nach einiger Zeit muß er das Bein noch einmal wieder freilegen, um zu kontrollieren, ob sich der Kunststoff wirklich aufgelöst hat.

– In einem Krankenhaus in Philadelphia entnahmen Wissenschaftler per Kaiserschnitt acht Lämmer aus ihren Müttern und ließen sie erfolgreich in einer „künstlichen Gebärmutter heranreifen“.

– An der Universität Cambridge fanden Wissenschaftler heraus: „Schafe können Gesichter erkennen – und zwar ähnlich gut wie Menschen. Sie zeigten 12 gesunden Tieren Gesichter berühmter Persönlichkeiten. Ihre Studie belegt eine hohe Trefferquote.“ Sie soll mit 12 genmanipulierten Schafen fortgeführt werden. Im Internet findet man zig Einträge über die Studie. Aber keinen einzigen darüber, dass umgekehrt Ähnliches gilt: In Estland, wo der Biologe Jakob von Uexküll aufwuchs, gab es auf dem elterlichen Gutshof einen alten Schäfer. Trotz guter Augen erkannte er den herankommenden Verwalter nicht gleich und entschuldigte sich mit den Worten: „In meiner Herde kann ich jedes Schaf auseinanderhalten, aber bei den Menschen will mir das nicht gelingen, die sehen für mich alle gleich aus.”

– Bei einem anderen Experiment hängten Cambridge-Forscher Schafportraits in den Stall: zwei Jahre lang konnte sich ein Schaf diese Gesichter von 50 Artgenossen merken, die Portraits bewirkten laut Wikipedia eine deutliche Senkung des Adrenalinspiegels und der Pulsfrequenz. Die Forscher führten dies darauf zurück, dass das Schaf den Eindruck hatte, dass es nicht allein ist. „Das Aufhängen von Porträts mit geometrischen Formen führte dagegen zum Anstieg der Herzfrequenz und Angst-Blöken.“

– In einem weiteren Experiment setzten Cambridge-Wissenschaftler eine „Gesichtserkennungs-Software“ bei Schafen ein, um zu registrieren, „ob und wie stark ein Tier Schmerzen hat“. Auf einer „Sheep Pain Facial Expression Scale“ unterschieden sie dabei neun Schmerzgrade. Ihr „System“ soll unerfahrenen Schäfern und Tierärzten nützen.

– Im Gegensatz dazu erforscht eine Schweizer Biologin mit Infrarotsensoren zur Messung von Gehirnströmen das „emotionale Wohlbefinden ihrer Versuchs-Schafe“, meldete Radio Bayern.

– Gleich dutzendweise befassen sich Forscher weltweit mit der Sexualität von Schafen. Der SWR berichtete, dass sie herausfanden, „etwa 8 Prozent aller Schafe weltweit sind homosexuell. Manche weiblichen Schafe verhalten sich sogar wie Hammel, sie haben keine funktionierenden Eierstöcke.“

– Kalifornische Genetiker haben menschliche Stammzellen in ein Schafembryo eingesetzt. Sie sollten im Tier ein menschliches Organ heranwachsen lassen, das als „maßgeschneiderte Organspende“ transplantiert werden kann. Das Embryo lebte 28 Tage, davon 21 im Mutterschaf. Der MDR spricht von der Züchtung eines „Mensch-Schaf-Mischwesens“.

– Genetiker in Uruguay haben das Erbgut von Schafen mit einer „Quallen-DNA“ manipuliert, so dass sie jetzt im Dunkeln leuchten. „Das könnte Hirten mit Sehproblemen die Arbeit erleichtern“, schreibt „Die Welt“ zynisch.

– Der Archäozoologe Hans-Christian Küchelmann hat bei Ausgrabungen nachgewiesen, dass die Schafe ursprünglich keine Wolle an sich hatten, sondern ein normales Fell ähnlich wie Hirsche. Die Wolle wurde ihnen mit ihrer Domestizierung angezüchtet und immer mehr verfeinert. Küchelmann erwähnt das neuseeländische Merinoschaf „Shrek“, das sich sechs Jahre lang der Schur entzog und, als es eingefangen wurde, 27 Kilo Wolle am Körper hatte. Es bewies damit, dass Wollhaar immer weiter wächst. Heute befindet sich „Shrek“ ausgestopft im neuseeländischen Nationalmuseum. „Merkwürdigerweise zeigen unsere Studien, dass im Laufe der Jahrtausende die Produktion von Wolle zwar zugenommen hat, die Anzahl der Schafe sich aber verringerte“, so Küchelmann.

– Gleich zwei Studien haben sich mit dem Einfluß der Klimaerwärmung auf Wildschafe befaßt: Früher war es mal günstig, ein schwarzes Schaf zu sein. Das dunkle Fell speicherte mehr Sonnenwärme und sie brauchten weniger Futter. Inzwischen bietet das Dunkelsein vielerorts keinen Vorteil mehr, so dass sich die hellen Schafe durchsetzen und es immer weniger schwarze gibt.

1. Im Vergleich zur Literatur über Katzen z.B. ist die über Schafe nicht besonders üppig, zudem behandelt sie diese Tiere meist nur unter dem Aspekt der Mehrung ihres Nutzens. In einem Interview mit der belgischen Philosophin Vinciane Despret erklärte die Schafforscherin Thelma Rowells: „Menschen, die diese Tiere züchten, werden weit gehen, um nicht akzeptieren zu müssen, dass sie Beziehungen und Meinungen haben, Schafe haben aber ganz sicher Meinungen.“

Die Feldforscherin Thelma Rowell hielt auf einem Primatologen-Kongreß einen Vortrag mit dem Titel: „A Few Peculiar Primates“. Es ging darin jedoch nicht um Affen, sondern um Schafe, sie lebt in Kanada mit einer kleinen Herde. „Ich weiß natürlich, dass meine Schafe keine Schimpansen sind“, erklärte sie, „aber ich will damit ausdrücken, dass es sinnvoller ist, den Schafen die Möglichkeit einzuräumen, sich wie Schimpansen zu verhalten, als davon auszugehen, dass sie langweilig sind im Vergleich zu Schimpansen – dann haben die Schafe nämlich keine Chance“.

Thelma Rowells Forschung an ihren 23 Schafen ist eine Art wissenschaftliches Pastorat (5). Sie füttert ihnen 24 Portionen jeden Tag, eine mehr als genug also, so dass keines sich wegen Futter mit einem anderen streiten muß. Wie gehen diese Schafe damit um? Das allein macht die Tiere schon „interessanter“, wobei die Ethologin sich fragt: „Was zählt für sie“, d.h. für ihre 3 Böcke, 8 Mutterschafe und 12 Lämmer? Normalerweise sieht man keine Böcke in den Herden, weil mehr als 95 Prozent frühzeitig selektiert werden. „Wo die Forscher in ihren Herdenstudien nur Hierarchie- und Dominanzkämpfe sehen, sehe ich die Versöhnungsgesten. Die Böcke bleiben ja für sich, sie kämpfen nur in der Deckzeit, einen Monat im Jahr, hinterher sind sie wieder zusammen, während die übrige Herde von einem alten Mutterschaf angeführt wird. Ich kenne ältere Böcke, die jahrelang mit einem jüngeren eng befreundet waren. Bei den weiblichen Schafen gibt es ebenfalls verschiedene Freundschaften, die wichtig sind.“

Thelma Rowell arbeitet an einem anderen Bild von Schafen, von ihrer Kommunikation in der Herde. Sie meint, dass die Forschung sich so lange auf „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“ konzentriert hat, korrespondiere mit einem bestimmten politischen Kontext. Sie läßt sich bei ihrer Schafforschung von einer „Tugend der Höflichkeit“ leiten. Dadurch werde sie gezwungen, kein Wissen hinter dem Rücken derjenigen zu konstruieren, die sie untersucht. Den Schafen habe man bisher die geringste Chance gegeben, ihre Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst sozial zu organisieren. „Dazu trägt auch bei, dass sie im Gegensatz zu anderen Farmtieren nicht wirklich effektiv protestieren können. Sie sind die skandalösen Opfer eines hierarchischen Denkens in der Verhaltensforschung.“

2. Der Münchner Schriftsteller Jürgen Teipel hat in seinem Buch „Unsere unbekannte Familie“ (2018) vierzig Aufsätze von Tier-Forschern, -Filmern, -Hütern, -Liebhabern und Gnadenhofbetreibern versammelt, die über ein oder mehrere Tiere berichten, zwei auch über Schafe und Ziegen. Die Tierrechtlerin und Schafhalterin Hilal Sezgin erzählt darin eine interessante Geschichte, wie einige Neuzugänge sich in ihre Schafherde integrierten und eine neue „Mode“ kreierten: Zunächst bekam sie drei Zwergziegen. Als diese zu den Schafen auf die Weide kamen, es war Winter, schliefen sie die erste Nacht vor dem Stalltor, die zweite auf der Torschwelle und die dritte im warmen Stall bei der Herde. Dann bekam die Autorin zwei Heidschnucken: Tristan und Isolde. Als sie auf die Weide kamen, „nahmen sie die Schafherde gar nicht zur Kenntnis“, wegen der Distanz zu ihnen mußte Hilal Sezgin die beiden extra füttern – draußen. Die Schafe hatten im Stall ihre Raufe, wenn sie gefüttert wurden, kam Isolde nach einiger Zeit ans Tor und kuckte, wann denn sie und Tristan dran waren … Sie waren noch nicht Teil der Herde und schliefen draußen unterm Vordach. Da fing „eine der Zwergziegen an, Interesse an den beiden zu zeigen. Sie nahm eindeutig eine Zwischenposition ein.“ Wenn die Heidschnucken tagsüber unter dem Vordach lagen, legte sie sich ebenfalls dorthin, nicht direkt bei ihnen, aber nahe dran.“ Als die Zwergziege sogar anfing, mit ihnen zu fressen, „eröffnete“ Hilal Sezgin einen „Extrahaufen Futter“ für sie. Vielleicht bekommen die da draußen was Besseres als wir im Stall, mögen einige Schafe drinnen gedacht haben … Das sagt die Autorin aber nicht, sie stellt nur fest: „Auf einmal schlichen sich immer mehr Schafe von drinnen nach draußen, um mit den dreien dort zu fressen. Das ist gerade die große Mode – das Beste überhaupt, wenn man gar nicht mehr drinnen ißt. Sondern man ißt jetzt draußen.“

(Einige der Texte über Schafe entnahm ich dem in der Reihe „Kleiner Brehm“ erschienenen Band über Schafe, der kürzlich im Verlag Peter Engstler erschienen ist – mit diesem Umschlagbild von Susanne Memarnia:)

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2019/04/07/nichtmenschliche-wesen-und-einfluesse/

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